Das Geheimnis von Winterset
schon den ganzen Tag mit diesen Dingen verbracht habe", sie deutete auf den Tisch, „muss ich mich jetzt zu Hause um einiges kümmern."
Reed nahm ihre Antwort mit Takt auf und versuchte auch nicht, sie zu überreden. Wenige Minuten später stand die Kutsche vor dem Haus bereit, und Anna war fast ein wenig enttäuscht, wie wenig es ihm zu bedeuten schien, ob sie blieb oder nicht.
Er begleitete sie nach Hause, machte dabei bereits Pläne für den nächsten Tag und verabschiedete sich höflich. Als Anna ihren Bruder suchte, fand sie stattdessen eine kurze Nachricht von ihm vor, in der er ihr mitteilte, dass er leider auf einem der Höfe aufgehalten worden war und deshalb dort zu Abend essen werde. Und so aß sie allein, verbrachte den Rest des Abends lesend in ihrem Zimmer und rief sich dabei immer wieder in Erinnerung, warum es wichtig und richtig war, dass sie sich gegen ein Leben mit Reed Moreland entschieden hatte.
Auch während der nächsten Tage musste sie sich das ständig in Erinnerung rufen. Die meiste Zeit verbrachte sie mit Reed, gemeinsam versuchten sie, Antworten auf die Fragen zu finden, die die Morde aufgeworfen hatten. Trotz der furchtbaren Dinge, mit denen sie sich in dieser Zeit befasste, stellte Anna fest, dass sie so glücklich war wie seit Jahren nicht mehr.
Sie hatte völlig vergessen, wie sehr sie Reeds Unterhaltung schätzte, was für ein geistreicher Gesprächspartner er war und wie schelmisch seine grauen Augen funkeln konnten. Manchmal ertappte sie sich dabei, wie sie ihn verstohlen beobachtete, seine sinnlichen Lippen, das markante Kinn ... Einmal, während er las, musste Reed gespürt haben, dass sie ihn anschaute, und als er aufsah, breitete sich langsam ein Lächeln auf seinem Gesicht aus.
Unwillkürlich musste Anna ebenfalls lächeln, bevor sie ihren Blick rasch wieder auf die Seiten senkte, die sie gerade gelesen hatte.
Jeder Moment, den sie gemeinsam verbrachten, war von einer unmerklichen Spannung gegenseitiger Anziehung erfüllt. Wenn Reed lächelte, wurde ihr wohlig warm im Bauch, und wenn er lachte und sich um seine Augenwinkel kleine Falten abzeichneten, spürte sie im Innersten eine tiefe Sehnsucht. Sie konnte kaum seine Hände anschauen, ohne sogleich daran zu denken, wie die Berührung seiner Finger sich auf ihrer Haut anfühlte. Wenn sie sich zusammen über einen Artikel oder ein altes Dokument beugten, nahm sie den feinen Duft seiner Haut wahr, spürte die Wärme, die er ausstrahlte, und konnte sich kaum mehr auf etwas anderes konzentrieren.
Sie begehrte ihn ... mehr noch als vor drei Jahren, denn damals hatte er sie niemals so ungezügelt, so eindringlich geküsst wie nun auf Kyrias Feier. Dieser Kuss hatte ein starkes und ursprüngliches Verlangen in Anna geweckt, das sie nie zuvor empfunden hatte - auch nicht, als sie vor drei Jahren so sehr in Reed verliebt gewesen war. Er war jetzt älter und reifer, was sie ungemein anziehend fand. Auch behandelte er sie nicht mehr mit Samthandschuhen, und Anna genoss es, wie sie nun miteinander umgingen.
Nachdem sie die Unterlagen des Doktors aufmerksam studiert hatten, kamen Reed und Anna zu dem Schluss, dass es am besten wäre, zuerst jemanden ausfindig zu machen, der sich an die Fälle noch selbst erinnern konnte. Da Susan Emmett Dienstmädchen auf Winterset gewesen war, wollten sie die Suche zunächst auf das Hauspersonal beschränken. Reed begann bei seinem Butler, der ihn jedoch sogleich ein wenig hochmütig davon in Kenntnis setzte, dass er nicht aus dieser Gegend komme, sondern zuletzt in Brighton gearbeitet und die Stelle auf Winterset von einer Agentur vermittelt bekommen habe. Es sollte sich herausstellen, dass die Haushälterin auf eben diese Weise angestellt worden war und ursprünglich aus Devonshire stammte.
„Ich erinnere mich noch an den Butler von Onkel Charles", sagte Anna zu Reed. „Er hieß Merriman und war, seinem Namen zum Trotz, ein furchtbar sauertöpfischer Mann. Nachdem Onkel Charles Winterset verlassen hatte, setzte Merriman sich meines Wissens zur Ruhe. Leider weiß ich nicht, wo er jetzt wohnt - oder ob er überhaupt noch lebt. Aber wenn ja, so müsste er eigentlich schon zu Zeiten der ersten Morde hier im Haus angestellt gewesen sein. Irgendwie sah er immer so aus, als wäre er so alt wie das Haus selbst. Jemand anderen weiß ich leider nicht."
Schließlich fragten sie Mrs. Michaels. Anna war ein wenig überrascht, wie überschwänglich ihre so bodenständige Haushälterin reagierte, als sie
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