Das Geheimnis von Winterset
Winters."
„Dann waren die de Winters eher nachlässig?"
„Die de Winters waren vielmehr schillernd", verbesserte Anna schmunzelnd. „Ihr Leben hatte sich stets in ganz anderen Dimensionen abgespielt - so wie einst das von Lord Jasper mit seinen Jagdhunden."
„Mmh ... es kann manchmal recht anstrengend sein, schillernde' Verwandte zu haben. Aus eigener Erfahrung weiß ich das nur zu gut."
„Ich denke nicht, dass Ihre Familie auch nur annähernd so seltsam ist, wie Sie behaupten", widersprach Anna ihm.
„Sie glauben mir nicht? Das liegt nur daran, dass Sie meine Familie noch nicht kennengelernt haben."
„Doch, ich kenne Kyria. Und Con und Alex. Und bislang fand ich sie alle ganz bezaubernd."
„Aber bedenken Sie nur einmal ihre Namen! Wer käme schon auf den Gedanken, seine Zwillinge Constantine und Alexander zu nennen?"
„Vielleicht jemand, der glaubt, dass den beiden Großes bevorsteht?", schlug Anna vor.
„Nein, ich werde Ihnen sagen, wer auf eine solche Idee kommt - dieselbe Person, die meine älteren Zwillingsgeschwister Theodosius und Thisbe genannt hat."
„Ach je... "
Er lächelte sie schelmisch an, und Anna glaubte, unter seinem Blick dahinzuschmelzen. „Sehen Sie! Mein Vater ist nun einmal der Überzeugung, dass sich seit dem Fall Roms nichts Nennenswertes mehr auf der Welt ereignet hat."
„Hat Ihre Mutter keine Einwände dagegen erhoben?"
„Meine Mutter hat meinen Namen vorgeschlagen und den meiner Schwester Olivia. Kyria war wohl ein Kompromiss - Griechisch für meinen Vater, und meiner Mutter gefiel der schöne Klang. Aber sie neigt dazu, meinem Vater in solchen Kleinigkeiten wie den Namen ihrer Kinder nachzugeben, da sie mit viel wichtigeren Dingen beschäftigt ist - Sozialreformen, Frauenwahlrecht, Gesetze zur Eindämmung der Kinderarbeit."
„Das klingt, als sei Ihre Mutter ein sehr guter Mensch."
„Oh, das ist sie zweifellos - so gut, dass die meisten anderen Menschen ihren Erwartungen nicht gerecht werden können."
„Aber Sie haben ihre Erwartungen ganz sicher nicht enttäuscht."
„Natürlich habe ich das. Meine Mutter versetzt uns alle in Furcht und Schrecken."
Anna lachte. „Was für einen Unsinn Sie erzählen! Ich glaube Ihnen kein Wort, denn ich kenne niemanden, der dem Leben so unerschrocken begegnet wie Sie und Ihre Geschwister."
„Nun, dann haben Sie meine Mutter noch nicht kennengelernt", erwiderte Reed lächelnd.
Auf diese Weise plauderten sie unbeschwert, bis sie in Winterset eintrafen, wo sie sich sogleich auf die Suche nach den alten Haushaltsbüchern machten. Zuerst sahen sie in der kleinen Kammer nach, in der das Tafelsilber unter Verschluss gehalten wurde, fanden dort jedoch nichts. Dann gingen sie in das Arbeitszimmer und anschließend in die Bibliothek, aber nirgendwo fand sich eine Spur der gesuchten Bücher.
„Das Büro des Verwalters!", rief Anna plötzlich. „Ich weiß nicht, warum ich nicht eher daran gedacht habe. Er hatte ein kleines Haus hier auf dem Anwesen, hinter den Stallungen. Als mein Vater die Geschäfte von Winterset übernahm, übertrug er alles unserem Verwalter, und das Gebäude stand seitdem leer. Vielleicht sind die alten Unterlagen noch dort."
„Einen Versuch wäre es zumindest wert", stimmte Reed zu.
Nachdem sie eine Weile nach den passenden Schlüsseln gesucht hatten, entschieden sie sich vorsichtshalber, sämtliche mitzunehmen, die sie gefunden hatten. Endlich überquerten Reed und Anna den Hof, gingen an den Stallgebäuden vorbei und den Pfad entlang, der zu einem kleinen Haus führte, das ein wenig versteckt hinter einigen Bäumen lag. Durch eine Seitentür gelangte man direkt in das Verwalterbüro.
Einer der Schlüssel passte glücklicherweise, aber das seit Jahren unbenutzte Schloss gab nur widerwillig und mit einem langgezogenen Quietschen nach. Als Reed die Tür schließlich aufstieß, blickten sie in einen kleinen Raum, in dem ein Schreibtisch, ein paar Aktenschränke und einige Regale standen. Im hinteren Teil des Raums befanden sich noch zwei große Truhen, und jede verfügbare Fläche war mit Kartons vollgestellt. Über allem lag eine dichte Staubschicht.
Sie ließen die Tür hinter sich auf, um Luft und Licht in den kleinen Raum zu lassen. Anna nahm die Schleppe ihres Reitkostüms hoch und steckte sie an ihrem Gürtel fest, damit sie nicht über den staubigen Boden schleifte.
Sie bahnte sich ihren Weg durch den ungemütlichen Raum, zog die Vorhänge des einzigen Fensters beiseite, und sogleich strömte
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