Das Geheimnis von Winterset
begegnet. Viele hielten die beiden für ein ungleiches Paar, denn meine Mutter war eine Schönheit und zudem eine de Winter. Aber das interessierte meine Mutter nicht. Sie und mein Vater haben sich sehr geliebt."
Anna war sich gar nicht bewusst, dass ihr Gesicht einen ganz verklärten Ausdruck angenommen hatte und ihre Augen förmlich strahlten, während sie von ihren Eltern sprach - Reed hingegen war nicht entgangen, wie sie im Laufe ihrer Erzählung noch schöner wurde, als sie es ohnehin war. Fasziniert betrachtete er sie. Wie sehr er sie immer noch begehrte!
„Meine Eltern haben auch aus Liebe geheiratet", sagte er und fuhr sanft mit dem Finger über Annas bloßen Arm.
Der Atem stockte ihr bei seiner Berührung. Während sie zu ihm aufsah und ihre Blicke sich trafen, erkannte sie die hitzige Leidenschaft in seinen Augen und spürte selbst ein ungeduldiges Verlangen tief in sich. Anna erinnerte sich wieder an den kurzen Moment in der Bibliothek, als sie glaubte, dass Reed sie nun küssen würde ... und fragte sich, ob er es wohl jetzt tat.
Sie wollte von ihm geküsst werden. Ganz gleich, wie albern und unvernünftig ihr Wunsch auch sein mochte, sie wollte seine Lippen auf den ihren spüren und seine Hände auf ihren Armen fühlen, die sanft ihre Haut streichelten ... Sie erschauderte und öffnete leicht ihre Lippen.
Wäre es denn so verwerflich, fragte sie sich, wenn sie ihn jetzt küsste und nur für einen Moment das Glück und die Wonne empfand, die ihr für immer verwehrt waren?
Doch noch während ihr diese Frage durch den Kopf ging, wusste sie auch schon die Antwort darauf. Reed zu küssen würde alles nur schwerer machen. Ein Vorgeschmack auf das, was sie nie haben konnte, würde sie lediglich nach mehr verlangen lassen. Und Reed ... nein, es wäre gewissenlos, ihm das anzutun, und auch seine Leidenschaft erneut zu wecken.
Anna trat einen Schritt zurück, wandte ihren Blick ab und spürte gleichzeitig, wie unendlich schwer es ihr fiel.
„Wir sollten wieder hineingehen und uns erneut die Aufzeichnungen des Arztes ansehen", sagte sie ein wenig verlegen.
„Ja ... natürlich."
Sie schaute ihn kurz an. Sein Gesicht verriet keine Regung, und sie konnte den Ausdruck seiner Augen nicht deuten, als er ihr erneut förmlich seinen Arm bot. Sie legte ihre Hand in seine Armbeuge und spürte die kraftvollen Muskeln durch den Stoff seines Gehrocks hindurch. Die Spannung zwischen ihnen war deutlich zu spüren, als sie schweigend zum Haus zurückkehrten.
Den Rest des Nachmittags verbrachten sie in der Bibliothek. Reed setzte sich nun Anna gegenüber an den Tisch und widmete sich wieder dem Tagebuch des Doktors, während Anna einige der Zeitungsartikel las.
Die Berichte waren zumeist reißerische Darstellungen, die die Morde in den schillerndsten Farben schilderten und nur wenige Tatsachen enthielten. Es wurde von einem unschuldigen Mädchen geschrieben, das „brutal aus dem Leben gerissen wurde", und überall fanden sich Verweise auf die Geschichten von der „blutrünstigen Bestie", die in der Gegend ihr Unwesen trieb. Aus wenigen Fakten wurden viele Worte gemacht, und Anna stellte schon bald fest, dass die Aufzeichnungen des Arztes weitaus aufschlussreicher gewesen waren als alle Zeitungsberichte zusammen.
„Hiermit lässt sich nichts anfangen", bemerkte sie schließlich, nachdem sie den letzten Artikel resigniert aus der Hand gelegt hatte.
Reed betrachtete sie über den Tisch hinweg mit einem bedauernden Lächeln. Nachdem er mit dem Tagebuch fertig gewesen war, hatte er sich ebenfalls einige der Zeitungen vorgenommen. „Das sehe ich genauso."
Er stand auf und lockerte seine Schultern, die sich während der Stunden aufmerksamer Lektüre ein wenig verspannt hatten. Langsam ging er zum Fenster hinüber und sah hinaus. „Es wird bereits dunkel." Nach einem kurzen Moment fragte er dann beiläufig: „Würden Sie noch zum Abendessen bleiben?"
Anna betrachtete die Papiere, die vor ihr lagen, als ob sie dort die richtige Antwort finden würde. „Ich ... Kit wartet wahrscheinlich schon auf mich."
„Ich könnte einen der Stallburschen mit einer Nachricht an ihn losschicken."
Hin und her gerissen, zögerte sie. Der Gedanke daran, mit Reed gemeinsam zu Abend zu essen und dabei angeregt und vergnügt zu plaudern, war mehr als verlockend. Und genau das war das Problem - es war einfach zu verlockend.
„Nein", sagte sie schließlich, stand auf und lächelte bemüht. „Ich muss wirklich gehen. Nachdem ich
Weitere Kostenlose Bücher