Das Geheimnis von Winterset
zum Gespräch mit dem Sohn eines Dukes in den Salon gebeten wurde.
„Oh ja, natürlich erinnere ich mich an Merriman", meinte sie und nickte eifrig. „Er trug seine Nase immer mächtig hoch, weil er vorher für einen Earl gearbeitet hatte und dachte, er sei was Besseres - dabei sind die Vorfahren der de Winters einst mit William dem Eroberer höchstpersönlich nach England gekommen! Aber zur Zeit der Morde", sie schüttelte sich dramatisch, „hat Merriman noch nicht auf Winterset gearbeitet. Der Butler von damals hieß Cunningham. Der ist schon vor vielen Jahren gestorben, und dann erst hat Seine Lordschaft Merriman eingestellt."
„Oh", sagte Anna enttäuscht. „Und was ist mit der Haushälterin von damals?"
„Nun, das war ja vor meiner Zeit", ließ Mrs. Michaels sie wissen. „Als ich meine Stelle bei Ihnen angetreten hatte, erfuhr ich irgendwann, dass es eine Frau ... oh, wie hieß sie noch gleich?" Nachdenklich legte sie die Stirn in Falten. „Es fällt mir bestimmt gleich ein. Nach allem, was die Dienstmädchen sich so erzählten, muss sie auf jeden Fall eine regelrechte Tyrannin gewesen sein."
Anna musste unwillkürlich schmunzeln, führte Mrs. Michaels doch selbst ein strenges Regiment und ließ es sich nicht nehmen, jeden Abend um zehn zu kontrollieren, ob ihre Dienstmädchen auch alle im Bett waren.
„Hart?", schlug Mrs. Michaels nun zögerlich vor. „Nein ... Hartwell! Genau. Mrs. Hartwell. Ich glaube, sie war auf Winterset, bis Ihr Onkel sich zu den Barbaren auf diese Insel zurückgezogen hat. Nur, wohin ist sie eigentlich danach gegangen? Lassen Sie mich überlegen ... "
„Das reicht völlig aus, Mrs. Michaels", versicherte ihr Anna. „Ich denke, dass wir Mrs. Hartwell bestimmt ausfindig machen können. Mein Onkel wird ihr sicher eine Rente ausgesetzt haben, und darüber weiß Mr. Norton zweifellos Bescheid."
Reed nickte. „Ja, natürlich. Wir fragen einfach Norton."
Es bedurfte nur einer kurzen Nachricht an den Anwalt, die Reed umgehend durch einen seiner Stallburschen zustellen ließ, und binnen einer Stunde erhielten sie eine Antwort von Mr. Norton. Er konnte ihnen mitteilen, dass Mrs. Hartwell bei ihrem Sohn in Sedgwick lebte. Das erschien Anna und Reed eine erfreuliche Wendung der Dinge, und gleich am nächsten Morgen machten sie sich frohgemut auf den Weg in das benachbarte Dorf, um die alte Haushälterin aufzusuchen.
Statt mit der Kutsche zu fahren, ritten sie zu Pferde, und Anna erfreute sich unbeschwert an dem strahlend schönen Morgen. Als Reed sie vor drei Jahren umworben hatte, waren sie oft gemeinsam ausgeritten, und auf einmal fühlte sie sich wieder wie damals - zumindest ein bisschen.
Die Adresse, die Mr. Norton ihnen gegeben hatte, führte sie zu einem hübschen Fachwerkhaus aus der Tudorzeit, das sehr gut erhalten war und einen in voller Blüte stehenden kleinen Vorgarten hatte. Es öffnete ihnen ein rotwangiges junges Mädchen, das sie ein wenig schüchtern begutachtete und dann einen hastigen Knicks machte, bevor es nach seiner Mutter rief.
Daraufhin erschien eine Frau in mittleren Jahren. Sie schaute sie beide ein wenig verdutzt an, nachdem Reed ihr erklärt hatte, dass sie Mrs. Hartwell besuchen wollten, die einmal die Haushälterin auf Winterset gewesen war.
Dennoch bat sie Anna und Reed freundlich herein.
„Dann möchten Sie wahrscheinlich Johns Mutter sprechen", meinte sie und führte die beiden Besucher in eine kleine, aber sehr gemütliche Wohnstube.
„Ja. Ich bin Lord Moreland und lebe jetzt auf Winterset. Und dies ist Miss Holcomb. Ich würde Mrs. Hartwell gern einige Fragen über ihre Zeit auf Winterset stellen."
„Nun, ich ... natürlich können Sie mit ihr sprechen, wenn Sie das wünschen, aber ich bezweifle, dass Sie viel von ihr erfahren werden. Setzen Sie sich doch bitte, während ich mich um den Tee kümmere. Lizzie!" Sie eilte geschäftig aus dem Zimmer.
Kurz darauf kam das rotwangige Mädchen mit einem Teetablett herein, gefolgt von Mrs. Hartwell, die eine alte Frau am Arm führte, die sich schwer auf sie stützte.
Das Mädchen wartete auf die beiden, die nur mühsam vorankamen, und trat verlegen von einem Fuß auf den andern. Dann half sie ihrer Mutter, die alte Frau in ihren Sessel zu setzen.
„Mutter Hartwell", sprach die jüngere Frau die Alte laut an, beugte sich zu ihr hinunter und sah ihr direkt ins Gesicht. „Sie haben Besuch."
Die ältere Mrs. Hartwell richtete ihren leeren Blick auf ihre Schwiegertochter, dann drehte sie
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