Das Geheimnis zweier Ozeane
unterseeischen Berg mit Booten, Messern, Speerspitzen und solchen Bauwerken wie diese Terrassen mit den Kolossalstatuen gesehen?“
„Nein, aber …“
„Na, siehst du … doch halt! Was ist denn das?“ unterbrach sich plötzlich Schelawin und zeigte auf einen großen dunklen Fleck am Berghang.
„Der Eingang zu einer Höhle, das sieht man ganz genau“, antwortete Pawlik, der sich in solchen Dingen auszukennen glaubte.
„Es ist sogar eine sehr große Höhle“, bestätigte der Ozeanograph. „Schauen wir sie uns einmal an.“
Pawlik schwamm als erster hinein. Die Grotte war tatsächlich sehr groß und schien, nach ihren Basaltwänden zu urteilen, vulkanischen Ursprungs zu sein. Möglich, daß in weit zurückliegenden geologischen Epochen durch diesen Krater oder durch einen seitlichen Spalt aus dem Innern der Erde flüssige Lava herausgeflossen war. Der Boden der Höhle war mit Schlamm bedeckt, in dem es von Muscheln, Stachelhäutern und Hohltieren wimmelte; Wände, Felstrümmer und Lavablöcke waren von einem dichten Kalkalgenpolster überzogen.
Nachdem Schelawin und Pawlik alles oberflächlich untersucht hatten, verspürten sie Hunger und Müdigkeit. Sie ließen sich auf einem Felsstück nieder und tranken Kakao. Pawlik wollte das Gespräch fortsetzen:
„Iwan Stepanowitsch, wenn dies kein gewöhnlicher unterseeischer Berg ist, was ist es dann?“
„Das ist die Insel Rapa-Nui. Eine geheimnisvolle, rätselhafte Insel, die bis zum heutigen Tage den Geographen, Ethnologen und Kulturgeschichtsforschern der ganzen zivilisierten Welt viel Kopfzerbrechen gemacht hat. Hast du schon von dieser Insel gehört?“
„Rapa-Nui? Nein!“ gestand Pawlik. „Ich höre zum erstenmal davon.“
„Hm … Komisch! Vielleicht kennst du sie unter dem Namen Waigu, wie man sie manchmal nennt?“
„Nein“, antwortete Pawlik verlegen. „Auch Waigu kenne ich nicht.“
„Das verstehe ich nicht … Nun sage mir bloß, was man euch in euren hochberühmten Gymnasien oder – na, wie heißen sie nur – in euren amerikanischen Colleges lehrt. Nichts von der Insel Rapa-Nui oder Waigu oder der Osterinsel zu wissen! Das ist ungeheuerlich!“
„Osterinsel?“ rief Pawlik lebhaft. „Davon habe ich schon gehört. Ich erinnere mich. – Das ist eine winzige Insel im Stillen Ozean. Sie ist im achtzehnten Jahrhundert entdeckt worden. Damals lebten auf der Insel Götzenanbeter, aber später erschienen dort Mönche und bekehrten die Insulaner zum Christentum.“
„Dann hat man dir aber noch nicht das Interessanteste über diese seltsame Insel erzählt. Dieses winzige Eiland, das man in einer Stunde von einem Ende zum anderen zu Fuß durchqueren kann – ein einsames Fleckchen Erde, verloren in den unendlichen Weiten des Ozeans, fast viertausend Kilometer von Südamerika und ebensoweit von den nächsten Inseln Polynesiens entfernt –, dieses Inselchen ist voller Rätsel und Geheimnisse. Stell dir das nur vor, Pawlik: Von den vielen Volksstämmen Polynesiens, die auf zahllosen Inseln verstreut leben, hat nur das kleine Völkchen, das die Osterinsel bewohnte, eine Schrift entwickelt, erhalten auf den langen rotbraunen Holztafeln, den Kochau-Rongo-Rongo, die wir im Kanu gefunden und in den Händen gehalten haben. Nicht nur das! Diese Holztafeln mit der Schrift der alten Bevölkerung der Osterinsel sind bis heute noch nicht entziffert worden.“
Schelawin schwieg und trank etwas Kakao.
„Und dann diese Terrassen oder Achu, wie sie von den Eingeborenen genannt werden! Diese ungewöhnlichen, erstaunlichen Steindenkmäler!“ fuhr der Ozeanograph fort. „Wie konnte ein solch kleines, primitives Völkchen derartige Bauwerke errichten? Einige dieser Statuen erreichen dreiundzwanzig Meter Höhe, haben eine Schulterbreite von fast drei Metern, einen zwei Meter hohen Kopfschmuck und wiegen fast zweitausend Zentner! Als die ersten Europäer die Insel besuchten, gab es hier nicht weniger als zweihundertsechzig Achu und mehr als fünfhundert Steinfiguren, die alle ihre zornigen Gesichter dem Ozean zukehrten. Ist es nicht klar, daß diese gewaltige Leistung nur ein anderes, größeres und kultivierteres Volk hatte vollbringen können?
Um diese Rätsel zu lösen, haben einige Gelehrte folgende Hypothese aufgestellt: Die Insel muß früher viel größer gewesen sein.
Sie wurde von einem volkreichen Stamm bewohnt, dessen eigenartige Kultur auf einer viel höheren Stufe stand als die der kümmerlichen Stämme, die von den ersten Europäern
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