Das Geheimnis zweier Ozeane
Rast setzten sie ihren Weg fort. Schelawin war schweigsam und schien in Gedanken versunken zu sein. Nur ab und zu sagte er einige Worte zu Pawlik:
„Schau unter die Füße. Paß gut auf! Vielleicht findest du noch etwas.“
Und wieder schwieg Schelawin, betrachtete aufmerksam den Meeresboden und murmelte nur ab und zu etwas vor sich hin. Nach einer halben Stunde blieb der Ozeanograph plötzlich vor einem großen flachen Felsen stehen. Seine Augen weiteten sich vor Staunen; dann rief er voller Begeisterung:
„Ein Boot! Ein Eingeborenenkanu!“
Mit erstaunlicher Gewandtheit kletterte er auf den Basaltfelsen. Vor ihm lag, wie auf einem Sockel, ein mit Schlamm gefülltes, langes, flaches Boot, dessen eigenartig geformter Bug mit bizarren Schnitzereien verziert war.
„Hierher, Pawlik!“ schrie Schelawin aufgeregt. „Leg es mit der Schaufel frei!“
Von Schlammwolken umhüllt, arbeiteten beide fast eine Viertelstunde fieberhaft. Als der Schlamm sich abgesetzt hatte und das Wasser wieder klar geworden war, lag vor ihnen eine Piroge * mit durchlöchertem Boden. Reste verfaulter Fischernetze lagen darin. Schelawin und Pawlik wühlten in den Netzen und zogen immer neue Dinge hervor: einen menschlichen Schädel, Holzfigürchen mit Menschen- oder Vogelköpfen, beinerne Angelhaken und seltsame rötliche Holztafeln, ein bis zwei Meter lang, mit rätselhaften Schriftzeichen bedeckt.
Gleich die erste Holztafel versetzte Schelawin in höchste Erregung. Er starrte mit weitaufgerissenen Augen auf die langen Reihen der Schriftzeichen und vollführte plötzlich einen wilden Tanz.
„Kochau! – Kochau-Rongo-Rongo!“ schrie er mit überschnappender Stimme. „Das sind sie! Das sind sie! Kochau-Rongo-Rongo der Rapa-Nui-Insulaner!“
Starr vor Staunen und mit offenem Munde blickte Pawlik auf den hüpfenden Gelehrten.
„Begreifen Sie, junger Mann, was das bedeutet? Nein! – Nein! Das begreifen Sie nicht! Das ist … das ist …“
„Was ist es denn?“ fragte Pawlik, der die Sprache wiedergefunden hatte.
Aber Schelawin schwieg plötzlich, dachte angestrengt nach und murmelte:
„Was das bedeutet? Hm … warten wir noch etwas. Man muß sich erst überzeugen. – Wir wollen sehen … Ich bin überzeugt, daß wir auch noch ein Achu finden. Gehen wir weiter! Leg alles in das Boot. Auf dem Rückwege nehmen wir es mit.“
Schelawin rannte jetzt fast; Pawlik konnte ihm kaum folgen. So verging noch eine halbe Stunde. Der Junge war schon fast außer Atem, als der Ozeanograph plötzlich stehenblieb.
Vor ihnen, quer zum Hang, erhob sich eine zwei Meter hohe und etwa fünfzig bis sechzig Meter lange, aus mächtigen Steinquadern gefügte Terrasse. Aber weder Schelawin noch Pawlik beachteten sie. Schweigend und wie verzaubert starrten sie auf einige riesengroße Steinfiguren, die in großartiger Monumentalität fünfzehn bis zwanzig Meter hoch über der Terrasse emporragten. Die Lichtkegel der Stirnlaternen bestrahlten ihre seltsam geformten, mit zwei Meter hohen zylinderähnlichen Aufbauten geschmückten Köpfe. Von ihren Gesichtern mit der schmalen, fliehenden Stirn, der langen, vorspringenden Nase, den tiefen, leeren Augenhöhlen, den dünnen, zusammengepreßten Lippen und dem spitzen Kinn ging eine seltsame Wirkung aus und hinterließ bei dem Beschauer einen unauslöschlichen Eindruck.
Die steinernen Bildwerke wuchsen mit ihrem verlängerten Torso aus der Terrasse heraus, ihre Arme waren nur angedeutet. So standen sie, kraftvoll in ihrer Einfachheit, stumm und drohend, und schauten in die Ferne, über die Köpfe der Taucher hinweg.
Zwischen diesen Steinriesen, die auf Wache zu stehen schienen, lagen zahlreiche andere von den Gewalten des Ozeans in den Schlamm niedergeworfene Standbilder mit abgespaltenen Kopfzylindern.
„Rapa-Nui …“, murmelte der Ozeanograph. „Rapa-Nui. Das alte Waigu. – Es stimmt also, der Ozean hat es verschlungen. Schau dir die Figuren genau an, Pawlik! Präge sie dir gut ein.“
Lange standen die beiden Menschen vor den Giganten; schließlich sagte Schelawin, wie aus einem Traum erwachend:
„Jetzt müssen wir weiter, um die Erforschung der Insel zu beenden.“
Der Ozeanograph warf noch einen letzten Blick auf die unterseeischen Wächter des Berges, brachte die Schraube in Gang und schwamm südwärts. Pawlik folgte ihm. Nach längerem Schweigen fragte er Schelawin:
„Iwan Stepanowitsch, warum haben Sie ,Insel‘ gesagt? Das ist doch ein Berg unter Wasser.“
„Hast du schon einmal einen
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