Das Geheimnis
Großmutter der Welt!« Sie tat so, als würde sie einen Säugling in den Armen wiegen, wobei sie leise, gurrende, zärtliche Laute von sich gab.
Ist sie wirklich so dumm, wie es den Anschein hat?, fragte sich Ryuko. In sämtlichen Ehen gab es Geheimnisse; nicht einmal Ryukos Verhältnis zu Keisho-in bildete in dieser Hinsicht eine Ausnahme. Da er gezwungen war, deutlicher zu werden, sagte er: »Hätte Konkubine Harume dem Shôgun einen Erben geboren, wäre sie seine rechtmäßige Gemahlin geworden und hätte Euch als höchste Frau Japans verdrängt.«
»Das wäre bloß eine Formalität gewesen.« Fürstin Keisho-in verschränkte die Arme vor der Brust und bedachte Ryuko mit einem Blick, in dem sich Hochmut und Verärgerung mischten. »Ich bin Tokugawa Tsunayoshis Mutter. Niemals wird mein Sohn eine andere Frau so lieben und achten wie mich! Er ist auf meine Ratschläge angewiesen. Bei den Göttern – ohne mich könnte er das Land gar nicht regieren!«
»Euer Sohn nimmt die Aufgaben eines Shôguns nicht gerade mit Freuden wahr«, erwiderte Ryuko und umging die Frage, ob Tokugawa Tsunayoshi das Land überhaupt regierte oder nicht. »Er würde sich lieber mit der Religion und dem Theater beschäftigen.« Oder mit Knaben, fügte Ryuko in Gedanken hinzu, sprach es aber nicht aus, denn Fürstin Keishoin weigerte sich, die Vorliebe ihres Sohnes für gleichgeschlechtliche Partner einzugestehen. »Wenn der Shôgun einen Erben bekommt, wäre die Thronfolge gesichert, und er würde dies vermutlich zum Anlass nehmen, sein Amt niederzulegen und einen Regentschaftsrat zu ernennen, bis sein Sohn alt genug ist, um selbst die Herrschaft anzutreten.«
Diese Ansicht wurde von vielen führenden Männern im bakufu geteilt; das Gesicht der Fürstin jedoch verzog sich zu einer Grimasse des Zorns. »Lächerlich! Mein Sohn ist ein leidenschaftlicher politischer Führer! Niemals würde er sein Amt niederlegen, es sei denn, der Tod reißt ihn aus dieser Welt. Und er braucht keinen Regentschaftsrat, um die Amtsgeschäfte zu führen, solange er noch seine Mutter hat, die ihm mit Rat und Tat zur Seite steht. Er liebt mich und vertraut mir.«
Doch Tokugawa Tsunayoshi vertraute auch Sano; Ryuko hatte beobachtet, wie der Einfluss des sôsakan mit jedem Tag wuchs. Schon der Hauch eines Verdachts konnte das Verhältnis zwischen Keisho-in und ihrem Sohn zerstören, denn der Shôgun fürchtete und verabscheute Gewalt. Falls er seine Mutter für eine Mörderin hielt, wandte er sich womöglich von ihr ab und erwählte eine andere Frau, um Keisho-ins Rolle als Mutter und Vertraute zu übernehmen – wahrscheinlich Ichiteru. Nach Harumes Tod hatte die gerissene Konkubine die Gunst des Shôguns zurückerworben und würde jede Gelegenheit nutzen, ihre Stellung zu verbessern.
Und was geschieht dann mit mir?, fragte sich Ryuko.
»Bitte, Herrin«, sagte er. »Lasst uns nur einmal annehmen, es gäbe einen Erben, und Euer Sohn würde sein Amt niederlegen. Wer hätte größeren Einfluss auf einen Regentschaftsrat? Ihr, die Mutter eines einstigen Shôguns, der zurückgetreten ist, oder die Mutter des zukünftigen Herrschers?«
Ryukos sonst so liebenswürdige Stimme war vor Nachdruck ein wenig scharf geworden; er beugte sich zu Keisho-in vor und ergriff ihre Hände. »Wäre Harume am Leben geblieben, hättet Ihr Eure Stellung als Herrscherin des Inneren Schlosses verloren, Eure Privilegien und Eure Macht. Und genau das wird sôsakan Sano irgendwann erkennen – wenn er es nicht schon erkannt hat. Ihr müsst damit rechnen, dass er Euch als Hauptverdächtige betrachtet!«
Auf der anderen Seite der Lichtung stürzte krachend eine gewaltige Eiche zu Boden. Ihre Äste schwankten und rauschten: die Todeszuckungen eines Giganten. Arbeiter machten sich daran, die Äste abzuhacken, den Stamm zu zersägen und die Leiche des Baumes fortzuschleifen. Während Fürstin Keishoin zuschaute, nahm ihr Gesicht einen verschlagenen Ausdruck an, den Ryuko nie zuvor bei ihr gesehen hatte. Von ihrer Dummheit war plötzlich nichts mehr zu sehen; mit einem Mal wirkte sie wie eine kluge, ja gerissene Frau. Ein eisiges, unbehagliches Gefühl ließ Ryuko innerlich schaudern.
Hatte Keisho-in erkannt, in welch gefährlicher Lage sie sich befand?
Oder hatte sie es die ganze Zeit über gewusst?
Langsam drehte Keisho-in sich zu Ryuko um und zog ihn zu sich hinunter auf die Knie, sodass ihre Gesichter sich fast berührten. Die Gutmütigkeit und der leicht dümmliche Ausdruck waren aus
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