Das Geheimnis
alle Frauen. Auch für Reiko. Und für Harume.
Sano vertrieb diese Gedanken aus seinem Kopf. Er bedankte sich bei dem Priester und verließ den Tempel. Auch wenn er bedauerte, dass die Reise nach Fukagawa keine neuen Ermittlungsergebnisse erbracht hatte, hatte er das Gefühl, trotzdem etwas Wichtiges gelernt zu haben, was Harume und seine bisher unglückliche Ehe mit Reiko betraf.
Der Distrikt Bakurochô lag im Nordwesten des Palasts zu Edo, zwischen dem Händlerviertel Nihonbashi und dem Fluss Kanda. Bakurochô war bereits ein Handelsplatz für Pferde gewesen, bevor Edo gegründet worden war; nun belieferte man von hier aus die 30.000 Samurai in der Hauptstadt mit Reittieren. Sano trabte über schlammige Straßen an Pferdezüchtern vorbei, die aufpassten, dass ihre Herden nicht auseinander liefen. Die zotteligen, verschiedenfarbigen Tiere hatten eine lange Reise aus den Weidegründen hoch im Norden des Landes hinter sich, um nun in den Ställen der Händler von Bakurochô verkauft zu werden. Die Gutsverwalter der Tokugawa, die für die Ländereien des Shôguns in diesem Bezirk verantwortlich waren, residierten in prunkvollen Villen. Provinzbeamte, die sich in der Stadt aufhielten, um Pferde zu kaufen oder mit den Gutsverwaltern amtliche Angelegenheiten zu besprechen, waren in den Gasthöfen abgestiegen. Der berühmte Bogenschießstand war lediglich eine Fassade; in Wahrheit diente er als illegales Freudenhaus. In niedrigen Holzgebäuden befanden sich Essstände, Teehäuser, der Laden eines Sattlers und die Werkstatt eines Hufschmieds. Lastenträger schleppten Heuballen zu den Stallungen, während eta die Straßen reinigten und den Pferdemist aufsammelten, der als Dünger verwendet wurde. Sano ritt an einem Laden vorüber, in dem Panzerungen für Kriegsrösser verkauft wurden, hielt schließlich vor Jimbas Stallungen, deren Tor von einem Wappen geziert wurde, das ein galoppierendes Pferd zeigte, und schwang sich aus dem Sattel.
Ein Helfer eilte herbei und verneigte sich. »Seid gegrüßt, sôsakan-sama. Wünscht Ihr ein neues Pferd?«
»Ich bin hier, um mit Jimba zu sprechen«, erwiderte Sano.
»Oh, gewiss. Folgt mir bitte.«
Der Helfer nahm die Zügel von Sanos Pferd und führte den Besucher über das größte Stallgelände in Bakurochô. Mit Ziegeln gedeckte Giebeldächer zierten die prachtvolle Villa der Familie Jimba, ein zweistöckiges, strahlend weiß verputztes Gebäude mit Gitterfenstern und Balkons; die Unterkünfte der Dienerschaft befanden sich auf der rückwärtigen Seite. Die Villa war Welten entfernt von den Hütten im Elendsviertel von Fukagawa, aus dem Harume stammte. Ob es ihr schwer gefallen ist, sich an dieses vollkommen andere Leben zu gewöhnen?, fragte sich Sano.
Gegenüber der Villa befand sich die Pferdekoppel, welche von Pfählen umgrenzt wurde, an denen Strohpuppen hingen. Die offenen Stalltore gaben den Blick auf Stallburschen frei, die Pferde striegelten. Der Helfer, der Sano begrüßt hatte, führte den Besucher zu einem Stall, an dem drei Samurai um einen grau gescheckten Hengst standen. Jimba, ein großer Mann in dunkelbraunem Kimono und weiter Hose, hielt den Kopf des Tieres.
»Am Zustand des Mauls kann man erkennen, ob ein Tier gesund ist«, erklärte der große Mann soeben und zog die Lippen des Pferdes auseinander, sodass die großen gelben Zähne zu sehen waren. Jimbas dicke Finger bewegten sich mit einer Geschicklichkeit, wie nur lange Übung sie hervorbringen kann. Als Sano näher kam, blickte er auf, und ein Ausdruck der Freude erschien auf seinem Gesicht. »Ah, sôsakan-sama. Wie schön, Euch wiederzusehen.«
Jimba war Mitte 40, wirkte aber noch genauso kraftvoll wie seine Tiere. Sein kantiger Kopf saß auf einem dicken, muskulösen Hals; sein Haar, das er nach hinten gekämmt und zu einem Knoten gebunden hatte, wies nur wenige graue Strähnen auf. In seinen derben Zügen und der dunklen Haut konnte Sano keinerlei Ähnlichkeit mit Harume erkennen.
Jimba grinste und entblößte dabei drei abgebrochene Vorderzähne: eine bleibende Erinnerung an einen Vorfall, bei dem er gegen ein bockiges Pferd den Kürzeren gezogen hatte. »Meinen Glückwunsch zur Hochzeit. Ihr seid gewiss schon eifrig damit beschäftigt, für den Fortbestand Eurer Familie zu sorgen, nicht wahr? Ha, ha, ha! Was kann ich heute für Euch tun?« Jimba überließ es seinem Helfer, den Verkauf zu Ende zu führen, und führte Sano die Ställe entlang. »Ein schnelles Rennpferd, vielleicht? Würde Eure
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