Das Geheimnis
Apfel. Könnt Ihr mir sagen, wo ich sie finde?«
Der Eigentümer schüttelte den Kopf. »Blauer Apfel? Kenne ich nicht. Vielleicht solltet Ihr in den Teehäusern nach ihr fragen.«
Sano beherzigte den Ratschlag, doch das Ergebnis war enttäuschend: Niemand hatte je von Blauer Apfel gehört, und niemand kannte Konkubine Harume – lediglich als Opfer eines Mordfalles, der im ganzen Land Aufsehen erregt hatte. Sano wandte sich in Richtung des Heiligtums von Hachiman, dessen großes, mit Kupferblech verkleidetes Dach sich wie ein gigantischer Samuraihelm über die Straßen erhob; die hohen steinernen Wände beherbergten den Etai-Tempel, in dem die Priester Verzeichnisse über jeden Einwohner des Bezirks führten. Wenn überhaupt, konnte Sano dort etwas über Blauer Apfel erfahren.
»Ihr richtiger Name war Yasuko«, sagte der alte Priester.
Er und Sano standen auf dem Friedhof des Etai-Tempels, auf dem Harumes Mutter ruhte, die schon seit zwölf Jahren tot war, wie Sano erst jetzt erfahren hatte. Die moosbewachsene steinerne Gedenktafel befand sich auf jenem Teil des Friedhofs, wo die Armen ruhten. Keine Blumen und keine Opfergaben zierten die schmucklosen Gräber. Hohes Gras wucherte auf Gehwegen, die kaum von Besuchern benutzt wurden. Der Ort strahlte eine bedrückende Atmosphäre der Vergessenheit aus. Während Sano dem Priester lauschte, der von Blauer Apfel erzählte, schauderte er unter seinem Umhang.
»Sie kam damals hierher, um Schutz vor den Überschwemmungen zu suchen. Ich erinnere mich noch gut an sie, weil sie sich in einer außergewöhnlichen Lage befand. Die meisten Nachtfalter haben keinen Menschen, der sich um sie kümmert. Ihre Kunden sind für gewöhnlich arm und zumeist Fremde – Stammkunden sind bei diesen Frauen selten. Aber Yasuko war wunderschön und sehr begehrt. Sie nannte sich deshalb Blauer Apfel, weil sie ein bläuliches, apfelförmiges Muttermal am Handgelenk hatte. Sie besaß ein vertrauensvolles und gütiges Wesen und hat sich oft die Namen ihrer Liebhaber auf den Körper tätowiert. Bevor ich ihren Leichnam damals auf dem Scheiterhaufen verbrannt habe, habe ich sogar zwischen ihren Fingern und Zehen Schriftzeichen entdeckt.«
Und dass ihre Tochter Harume diesem Beispiel gefolgt war, hatte sie das Leben gekostet.
»Yasuko gewann die Zuneigung des Pferdehändlers Jimba in Bakurochô, als dieser geschäftlich nach Fukagawa kam«, fuhr der Priester fort. »Nachdem das Kind geboren war, schickte Jimba regelmäßig Geld. Dann wurde Blauer Apfel krank. Sie verlor ihre Schönheit und damit ihre wohlhabenden Kunden. Von nun an musste sie ehemaligen Verbrechern zu Diensten sei, um überleben zu können, sogar eta, die kaum mehr sind als Tiere. Als Yasuko starb, brachte ich ihr Kind, das damals sechs Jahre alt war, in unserem Waisenhaus unter. Dann setzte ich mich mit Jimba in Verbindung. Er nahm das Mädchen mit zu sich nach Hause, nach Bakurochô.« Der Priester seufzte. »Ich habe mich oft gefragt, was aus dem Mädchen geworden ist.«
Als Sano es ihm erzählte, spiegelte sich Schmerz auf dem gütigen Gesicht des alten Mannes. »Was für eine tragische Geschichte«, sagte er leise und fuhr fort: »Vielleicht hätte Harume ein längeres und besseres Leben gehabt, wäre sie hier in Fukagawa geblieben und ein Nachtfalter geworden, so wie ihre Mutter.«
Sano hatte sich kaum einmal Gedanken darüber gemacht, dass den Frauen nur sehr wenige Berufe offen standen; nun aber erkannte er es mit erschreckender Deutlichkeit. War eine Frau nicht Ehegattin und Mutter, blieben ihr kaum Beschäftigungsmöglichkeiten: Dienerin, Hausmädchen, Nonne, Konkubine, Prostituierte, Bettlerin. Die Ehe und die Mutterschaft brachten einer Frau Ehre und Anerkennung – und vielen Frauen vielleicht auch Glück. Doch Freiheit und Unabhängigkeit waren ihnen verwehrt; sie durften sich nicht mit den Wissenschaften beschäftigen, nicht mit Dichtung und Malerei, nicht mit Kampf- und Waffenkunst, nicht mit Entdeckungen und Abenteuern. Vieles, das den Männern das Leben erst lebenswert machte, war den Frauen untersagt. Mit Unbehagen dachte Sano an Reiko, die darum kämpfte, sich von den Zwängen zu befreien, die einer Frau von der japanischen Kultur auferlegt wurden – und er dachte an seine eigenen entgegengesetzten Bemühungen, Reiko in die Rolle zu drängen, die eine Männergesellschaft ihr zuwies. Sano war Teil eines Systems, das den Frauen ein Leben vorschrieb, welches in vielen Bereichen eingeschränkt war – für
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