Das Geheimnis
Leute würden ihren Wert stets nach ihrem Rang bemessen – und nach ihrer Fähigkeit, Kinder zu bekommen. Zum ersten Mal konnte Sano die Enttäuschung und den Zorn seiner Frau verstehen; doch nach dem Vorfall mit Leutnant Kushida hoffte er mehr als zuvor, dass Reiko ihm gehorchte und in der Sicherheit der heimischen Villa blieb.
»Und nun ist Harume tot, und nie werde ich das Geld zurückbekommen, das ich für Lehrer und Kleidung ausgegeben habe.« Mürrisch verzog Jimba das Gesicht und lehnte sich an den Zaun. Dann schaute er Sano an, ein erwartungsvolles Funkeln in den dicht zusammenstehenden Augen. »Aber wenn ich es recht überlege, wird es mir von Nutzen sein, wenn Ihr Harumes Mörder ergreift. Dann kann er mir meine Verluste bezahlen.«
Nur mit Mühe gelang es Sano, seine Abneigung gegen die Geldgier dieses Mannes zu verbergen. »Ja, und vielleicht könnt Ihr mir helfen, diesen Mörder zu fassen«, sagte er und erklärte den Grund für sein Kommen. »Wie war Harume?«, fragte er dann. Als Jimba ihr Aussehen beschreiben wollte, fügte Sano hinzu: »Nein, nein, nein … Ich wollte wissen, was für ein Mensch sie gewesen ist.«
»Nun, sie war ein Mädchen wie jedes andere auch«, antwortete Jimba. Er schien erstaunt über Sanos Frage zu sein, ob Harume neben äußerer Schönheit auch charakterliche Eigenschaften besessen hatte. Dann wandte er sich wieder den Stallburschen zu, die den Reiter auf den Pferderücken hievten, und lächelte, als er sich erinnerte. »Als ich sie hergebracht habe, war sie ein kleines, trauriges Ding. Sie konnte nicht begreifen, dass ihre Mutter nicht mehr da war und dass ich sie aus der Umgebung herausholte, die ihr vertraut war. Sie hat ihre Freundinnen vermisst – die Mädchen aus den Elendsvierteln von Fukagawa. Sie hat niemals richtig hierher gepasst.«
Jimba kicherte trocken und fuhr fort: »Ich hatte meiner Gemahlin nie von Blauer Apfel erzählt, wisst Ihr? Und plötzlich war dieses kleine Mädchen bei uns. Meine Gemahlin war außer sich vor Zorn, und meine anderen Kinder waren eifersüchtig auf Harume, zumal sie meine Zuneigung besaß. ›Deine Mutter war eine Hure‹, sagten sie zu ihr, und ähnlich schlimme Dinge. Die Hausmädchen waren Harumes einzige Freundin nen. Ich vermute, sie haben die Kleine als eine der ihren betrachtet. Dem musste ich natürlich einen Riegel vorschieben. Ich wollte sie vom gemeinen Volk fern halten, damit sie nicht dessen Sprache und Gewohnheiten übernahm. Als sie elf war, erschienen die ersten Jungen auf der Bildfläche. Und Harume war wunderschön – das jüngere Abbild ihrer Mutter.«
Wehmütige Erinnerungen ließen Jimbas Züge weicher werden; vielleicht hatte er Blauer Apfel auf seine Weise doch geliebt. Immerhin hatte er ihre gemeinsame Tochter unterstützt und sie bei sich aufgenommen, noch bevor er gewusst hatte, dass der Shôgun sich eines Tages für sie interessieren würde. »Mit zwölf, dreizehn Jahren begann Harume, sich nachts des Öfteren aus dem Haus zu schleichen. Ich musste eine Aufpasserin einstellen, die auf das Mädchen Acht gab, dass sie nicht von irgendeinem Bauernlümmel schwanger wurde. Als Harume vierzehn war, kamen die ersten Heiratsangebote von reichen Kaufleuten. Aber ich wusste, dass sie jeden haben konnte, auch Freier aus vornehmstem Hause.«
Als Sano sich Harumes Kindheit vorstellte, tat das Mädchen ihm Leid. Zuerst war sie in Bakurochô eine Außenseiterin gewesen – und später im Inneren Schloss. Als junges Mädchen hatte sie nur in der Gesellschaft männlicher Bewunderer ein wenig Trost gefunden. Offenbar war sie während der Monate, die sie im Palast zu Edo verbracht hatte, demselben Muster gefolgt. Hatte es noch andere, ähnliche Überschneidungen ihrer Vergangenheit mit diesem letzten Abschnitt ihres Lebens gegeben?
»Diese Jungen vom Lande, die Harume gekannt hat«, sagte Sano, »ist sie mit einem oder mehreren in Verbindung geblieben, nachdem sie in den Palast zu Edo gerufen worden ist?« Sano wollte erfahren, ob Harume alten Freunden irgendwelche Geheimnisse anvertraut hatte. Vielleicht gab es Verdächtige – und Mordmotive – die überhaupt nichts mit den Tokugawa zu tun hatten.
»Ich wüsste nicht, wie eine solche Verbindung hätte aussehen sollen«, erwiderte Jimba. »Die Konkubinen leben doch völlig abgeschlossen. Auch bei ihren Ausflügen wird jeder ihrer Schritte von den Männern des Shôguns überwacht.«
Trotzdem war es Harume gelungen, sich davonzuschleichen und sich mit Fürst Miyagi
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