Das Geheimnis
vielleicht retten können.« Schluchzen machte es ihm unmöglich weiterzusprechen.
Sano unterdrückte das Verlangen, dem Pferdehändler die Meinung zu sagen und ihm zum Vorwurf zu machen, dass er Harumes Bitte um Hilfe nicht beachtet hatte. Stattdessen sagte er beschwichtigend: »Ihr konntet ja nicht wissen, was geschieht.«
Jimba hob sein gerötetes, tränenüberströmtes Gesicht und schluckte schwer. »Was bin ich nur für ein Dummkopf gewesen!« Er schlug sich an die Stirn. »Am liebsten würde ich mich umbringen! Ich habe das Mädchen gut erzogen und für viel Geld ausbilden lassen. Sie war ein Juwel! Durch sie wäre ich Mitglied des Tokugawa-Klans geworden. Nach Harumes Hilferufen hätte ich beim bakufu anfragen müssen, was im Inneren Schloss nicht stimmt! Dort hätte man sich um das Problem gekümmert. Aber nein, ich habe das Mädchen, in das ich so viel Geld gesteckt habe, nicht beschützt! Wie dumm von mir. Wie dumm von mir!«
Sano ließ ihn jammern und schimpfen, ohne ihn weiter zu trösten. Jimba hatte es nicht anders verdient, und Sano hatte seine eigenen Probleme.
Der Samurai auf dem Streitross galoppierte über die Koppel und lenkte das Pferd zwischen Reihen von Zielscheiben hindurch, nach denen er mit seinem Speer stieß. Zerfetzter Stoff und Strohhalme segelten durch die Luft. Schließlich zog der Reiter an den Zügeln und brachte das Pferd neben den wartenden Zuschauern zum Stehen.
»Ein ausgezeichnetes Tier«, sagte er. »Ich nehme es.«
Plötzlich bockte das Pferd. Der Samurai flog über den Kopf des Tieres hinweg und krachte zu Boden. Während seine Kameraden ihm zu Hilfe eilten, packten die Stallburschen die Zügel des Pferdes. Das Tier keilte aus, wehrte sich und biss nach den Händen der Stallburschen. Jimba sprang über den Zaun und eilte zu seinem gestürzten Kunden.
»Das Tier ist heute ein wenig unruhig«, erklärte der Händler. »Wenn die Stute erst einmal weiß, dass Ihr der Herr seid, wird sie sich benehmen.«
Selbst ein zahmes Wesen wehrt sich manchmal dagegen, ein Leben lang gehorchen zu müssen, ging es Sano durch den Kopf. Jimba hatte auch Harume zu zähmen versucht wie ein Pferd, jedoch vergeblich. Sie hatte sich weder von Jimba noch von anderen beherrschen lassen, nicht einmal vom Shôgun. Sano glaubte auch nicht, dass Harumes Nachricht an Jimba bloß eine List gewesen war, sondern dass sie sich einen Feind gemacht hatte, der die Macht, die Gelegenheit und die Entschlossenheit besaß, die Lieblingskonkubine des Shôguns zu töten. Auf welchen der Mordverdächtigen traf das am besten zu?
Unter Sanos Schärpe brannte der Brief, den Fürstin Keisho-in geschrieben hatte, wie eine Flamme. Keisho-in war die Herrscherin des Inneren Schlosses und besaß die Liebe des Shôguns. Mit Hilfe von Verbündeten im bakufu hätte sie die Ermordung Harumes rasch und problemlos bewerkstelligen können – wie auch die beiden vorangegangenen Mordversuche: den Giftanschlag im Sommer und den Dolchangriff aus dem Hinterhalt, den vermutlich ein angeworbener Meuchler verübt hatte.
Und nun erhärtete Jimbas Aussage, dass Harume einen Todfeind im Inneren Schloss gehabt hatte, den Verdacht gegen Keisho-in. Musste Sano die Mutter des Shôguns des Mordes anklagen – und damit sich selbst in höchste Gefahr bringen?
22.
A
uf dem Zettel, den Hirata in der Hand hielt, stand:
VERNEHMUNGSPLAN
1. Die wahren Gefühle Ichiterus gegenüber Harume herausfinden.
2. Ermitteln, wo Ichiteru während des Dolchangriffs und des ersten Giftanschlags auf Harume gewesen ist.
3. Hat Ichiteru jemals Gift erworben?
4. War Ichiteru in Harumes Gemach, nachdem das Tuschefläschchen und der Brief Fürst Miyagis im Palast angekommen sind?
5. Midori die gleichen Fragen stellen wie Ichiteru und auf diese Weise Ichiterus Aussagen gegenprüfen.
Als Hirata über die Ryôgoku-Brücke ritt, richtete er einen Teil seiner Aufmerksamkeit darauf, das Pferd an einer Gruppe Lastenträger vorüberzulenken, die ihm mit Bauholz beladen von den Holzplätzen in Honjo entgegenkamen; zum anderen konzentrierte Hirata sich auf den Plan, den er sich für die zweite Vernehmung von Konkubine Ichiteru zurechtgelegt hatte und murmelte die Anmerkungen vor sich hin, die er an den Rand gekritzelt hatte. »Die Verdächtige nicht im Theater, sondern im Palast zu Edo vernehmen.« – »Nicht zulassen, dass die Verdächtige den Fragen ausweicht.« – »Der Verdächtigen befehlen aufzuhören, sobald sie schlüpfrige Bemerkungen macht.« –
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