Das Geheimnis
»Während der Vernehmung nicht an Beischlaf mit der Verdächtigen denken.« – »Vor allem, sich nicht von der Verdächtigen berühren lassen!«
Um ein großes Loch in den Nachforschungen zu stopfen, musste Hirata sich einzig und allein auf die Informationen Ichiterus konzentrieren, nicht auf die Frau selbst. Er musste seinen Fehler bereinigen, bevor Sano davon erfuhr und das Vertrauen in ihn verlor. Er wollte sein Ansehen als tüchtiger Ermittler wiederherstellen. Und er musste unbedingt etwas vorweisen, um die enttäuschenden Ergebnisse seiner anderen Nachforschungen wettzumachen.
Am gestrigen Tag war es den Sonderermittlern nicht gelungen, den geheimnisvollen Kräuter- und Drogenhändler Choyei aufzuspüren; ebenso wenig hatten die Beamten feststellen können, woher das Pfeilgift stammte, mit dem Harume getötet worden war. An diesem Morgen hatte Hirata drei Beamte losgeschickt, die Verbindungsleute aus der Unterwelt Edos vernehmen sollten. Hirata selbst hatte soeben noch einmal das Polizei-Hauptquartier aufgesucht, doch ohne Erfolg. Es schien nur wenig Hoffnung zu geben, den Mordfall zu lösen, indem man die Quelle des Giftes aufspürte. Und dass Leutnant Kushida der Schuldige war, glaubte Hirata nicht. Ein Fehler würde schwere Strafen für ihn und Sano nach sich ziehen. Alles konnte davon abhängen, wie Hirata diesmal die Vernehmung Konkubine Ichiterus führte.
Er hatte eine ruhelose Nacht hinter sich. Erotische Träume hatten sich mit Phasen des Wachseins abgewechselt, in denen Hirata von Selbstvorwürfen geplagt worden war. Was für ein Narr er gewesen war, dass er sich von Ichiteru hatte überrumpeln lassen! Nach der Festnahme Leutnant Kushidas hatte Hirata den Versuch aufgegeben, ein wenig Schlaf zu finden, und stattdessen seinen Plan für die Vernehmung von Konkubine Ichiteru aufgestellt. Und nun versuchte er, die Suche nach Choyei weiterzuführen, sich seinen Vernehmungsplan einzuprägen und zugleich seine Entschlossenheit zu festigen, sich diesmal nicht von Ichiterus Verführungskünsten ablenken zu lassen.
Doch als Hirata sich den Zettel nun unter die Schärpe schob, um ihn später zu Rate zu ziehen, fühlte er bereits die Sehnsucht nach Ichiteru in sich aufsteigen. Er musste an ihre weiche, ein wenig heisere Stimme denken, an die Wärme in ihrem verführerischen Blick, an die erregenden Berührungen ihrer Hand. Augenblicklich durchlief eine Hitzewoge Hiratas Körper; doch unter der Oberfläche seiner Erregung schmerzte das demütigende Wissen, im gesellschaftlichen Rang weit unter Ichiteru zu stehen, die überdies Konkubine des Shôguns war, sodass all seine Sehnsüchte unerfüllt bleiben mussten.
»Passt auf, Herr!«
Die Warnung, die ein junger, fremder Fußgänger rief, riss Hirata aus seinen Gedanken. Er blickte auf und sah, dass er das Ende der Brücke bereits hinter sich gelassen hatte. Die Zügel waren schlaff, und sein Pferd trottete fröhlich von einer Straßenseite zur anderen und wäre beinahe über ausgelegte Waren hinweggestampft, die fahrende Händler am Straßenrand feilboten. Rasch zerrte Hirata an den Zügeln und brachte das Pferd wieder unter Kontrolle. »Verzeiht!«, rief er den Händlern zu, zunehmend besorgt, was die bevorstehende Vernehmung betraf. Wie sollte er von Konkubine Ichiteru die Wahrheit erfahren, wenn schon der bloße Gedanke an diese Frau ihn beinahe um den Verstand brachte?
Als Hirata ins Vergnügungsviertel Honjo Mukô Ryôgoku einritt, stellte er fest, dass die Besuchermassen trotz des tristen Wetters nicht geringer geworden waren. Auf der Straße führte eine Theatertruppe aus dem Stegreif Lustspiele auf; sie wurde von einer lärmenden Menschenmenge bejubelt, und in den Teehäusern und Essstuben blühten die Geschäfte. Das Kuriositätenkabinett der Ratte jedoch hatte geschlossen; die Plattform war leer, die Schiebetüren vor dem Eingang zugezogen. Auf einem Schild stand: HEUTE KEINE VORSTELLUNG. Hirata seufzte enttäuscht. Wenn die Ratte in der Stadt unterwegs war, konnte es Stunden, manchmal auch Tage dauern, bis sie wieder auftauchte. So viel zur Suche nach Choyei, dem reisenden Drogenhändler, dachte Hirata missmutig.
Als er das Pferd wendete, um zur Brücke zurückzureiten, entdeckte er eine vertraute Gestalt inmitten der Vergnügensuchenden. Es war der kahlköpfige Riese, der als Leibwächter der Ratte arbeitete und die Eintrittsgelder für die Monstrositätenschau kassierte. Er war in Richtung Feuerschneise unterwegs und stapfte an Spielhallen und
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