Das Geheimnis
Schlitzaugen der Ratte funkelten zwischen langen, fettigen Haarsträhnen. »Ich fürchte, den kann ich nicht finden. Tut mir Leid.«
»Aber du suchst ihn doch erst seit gestern«, sagte Hirata. »Woher willst du so schnell wissen, ob du ihn finden kannst oder nicht?«
»Die Ratte hat in ganz Edo Augen und Ohren, und wenn diese Choyei bis jetzt nicht entdeckt haben, hat der Mann die Stadt schon wieder verlassen oder ist niemals hier gewesen.«
Wenn sein bester Informant den Drogenhändler nicht aufspüren konnte, würde dies auch keinem anderen gelingen. Hiratas Enttäuschung verwandelte sich in Zorn. »Ich habe dir gutes Geld bezahlt. Willst du gegen unsere Abmachung verstoßen?« Er packte die Ratte beim Kragen, woraufhin der Riese mit drohendem Grollen näher stapfte.
»Bleib stehen, Kyojin!«, rief die Ratte, ohne den Blick von Hirata zu nehmen. »Ich würde niemals gegen unsere Abmachungen verstoßen! Niemals! « Rasch schob er eine haarige Hand in den Geldbeutel an seiner Hüfte, nahm eine Hand voll Münzen heraus und reichte sie Hirata. »Hier habt Ihr Euer Geld zurück – bitte schön.«
Hirata steckte die Münzen in seinen Beutel und musterte die Ratte argwöhnisch. Noch nie hatte dieser Bursche freiwillig auf Geld verzichtet. »Willst du mich reinlegen?« Wieder packte Hirata den Besitzer der Monstrositätenschau und schüttelte ihn, bis dessen Kopf haltlos hin und her wackelte. »Hat Choyei dich bezahlt, damit du den Mund hältst?«
»Nein, nein! Ehrlich nicht!«
Die Ratte wehrte sich. Der Riese packte Hirata. Eine Rauferei war die Folge. Schließlich gab Hirata auf und ließ die Ratte los. »Wenn ich herausfinde, dass du mich belogen hast, wirst du verhaftet. Und in eine Zelle gesperrt. Und verprügelt!« Er unterstrich jede einzelne Drohung, indem er der Ratte die Faust vor die Brust stieß. Dann stapfte er die Gasse hinunter, um sein Pferd zu holen.
Es wurde Zeit, Konkubine Ichiteru zu vernehmen.
Als Hirata in den Palast zurückkehrte, zitterte er fast vor Verlangen, Ichiteru wiederzusehen. Seine Haut fühlte sich so heiß an, als hätte er Fieber, und seine innere Unruhe war kaum zu ertragen, als er durch das Haupttor ritt. Als ihm klar wurde, dass er Ichiteru in diesem Zustand nicht allein gegenübertreten sollte, hielt er vor Sanos Villa und wies zwei Sonderermittler an, ihn zu begleiten. Ihr Beisein würde dafür sorgen, dass er an seinem Plan festhalten konnte und Ichiteru sich gesittet verhielt. Doch kaum hatten Hirata und die Sonderermittler die Villa verlassen, eilte ihnen ein Diener hinterher.
»Herr!«, rief er Hirata nach und wedelte mit einer kleinen, köcherartigen Lackschatulle. »Das hier ist gekommen, als Ihr nicht da wart.«
Hirata machte kehrt, nahm die Schatulle und zog die Schriftrolle heraus. Während er sie las, schlug sein Herz immer schneller.
Ich habe äußerst wichtige Informationen über den Mord an Konkubine Harume und muss Euch unbedingt sprechen – aber nicht heute, und nicht im Palast. Wenn falschen Leuten zu Ohren kommt, was ich Euch mitzuteilen habe, wäre mein Leben in Gefahr. Ihr trefft mich morgen zur Stunde des Schafes an dem Ort, den ich unten bezeichnet habe.
Bitte, kommt allein.
Ich freue mich schon jetzt ganz besonders, Euch wiederzusehen.
Konkubine Ichiteru
Dem Schreiben beigefügt war eine Karte von derselben Frauenhand gezeichnet, die mit kleinen, schwungvollen Schriftzeichen den Brief geschrieben hatte. Das weiße Reispapier war weich und zart. Feucht von Hiratas plötzlich verschwitzten Händen, verströmte es denselben Duft wie Konkubine Ichiteru. Einer plötzlichen Regung folgend, drückte er sich das Papier auf die Lippen. Als der feine Geruch erotische Erinnerungen in ihm wachrief, vergaß er die Enttäuschungen des Tages. Konkubine Ichiteru wollte ihn wiedersehen! Und ließen die abschließenden Worte ihres Briefes nicht vermuten, dass sie seine Empfindungen teilte? Hiratas Laune stieg in ungeahnte Höhen, und er jubelte vor Glück.
»Hirata-san? Was ist mit Euch?«
Hirata blickte auf und schaute in die Gesichter der beiden Sonderermittler, die ihn verwundert musterten. »Nichts«, sagte Hirata und schob den Brief hastig in die Schatulle zurück.
»Werden wir jetzt Konkubine Ichiteru aufsuchen?«, fragte einer der Männer.
Der Polizist in Hirata ermahnte ihn mit Nachdruck, an seinem ursprünglichen Plan festzuhalten und sich nicht von einer Mordverdächtigen lenken und leiten zu lassen. Sie führt nichts Gutes im Schilde, warnte
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