Das Geheimnis
durchblätterte, fragte er sich einmal mehr, weshalb Leutnant Kushida dieses Buch hatte stehlen wollen. Wirklich als ›Erinnerungsstück‹ an die unerreichbare Geliebte, wie er behauptet hatte?
Plötzlich fiel Sano etwas auf, das er zuvor nicht bemerkt hatte. Er hielt das Tagebuch näher ins Licht der Lampe, um sich seine Entdeckung genauer anzuschauen.
Kleine Tuscheflecken waren an den inneren Rändern der Seiten zu sehen, dort, wo das Papier in der Mitte gefaltet und mit einer seidenen Kordel gebunden war. Sano löste die Kordel und nahm die Seiten aus dem Einband. Die Flecken erwiesen sich als winzige Schriftzeichen, die Harume genau in die Mitte mehrerer Blätter geschrieben hatte, sodass die Schriftzeichen von der Kordel des Einbands verdeckt gewesen waren. Las man die Seiten in der richtigen Reihenfolge, lautete der Text:
Wir liegen beieinander
In den Schatten zwischen zwei Leben,
Haut berührt bloße Haut,
Dein Atem vermischt sich mit dem meinen,
Dein Seufzen füllt die Tiefen meines Innern,
Und unser beider Blut singt im Rhythmus
Eines gemeinsamen Herzschlags.
Wenn du die geheimsten Stellen
Meines Körpers erforschst,
Öffne ich mich deiner Berührung –
Oh, könnte ich dich nur
Ganz und gar in mich aufnehmen,
Dass wir nie mehr getrennt werden.
Aber, ach! Dein Rang und dein Ruhm
Bergen Gefahr für uns beide.
Nie können wir Seite an Seite gehen
Im hellen Tageslicht.
Doch die Liebe ist ewig
Und du bist mein für immer
Wie ich für immer die deine bin,
Und so sind wir vereint,
Wenn nicht als Mann und Frau,
So doch im Geiste.
Nur mit Mühe konnte Sano einen lauten Jubelschrei unterdrücken; er las die Zeilen noch einmal. Dass Harume von ›ewiger Liebe‹ schrieb, deutete darauf hin, dass die Zeilen nicht Fürstin Keisho-in galten, zumal diese sich in ihrem Brief beklagt hatte, von ihrer Geliebten betrogen worden zu sein. Harume musste also ein Verhältnis mit jemand anderem gehabt haben – mit einem Menschen, den sie so sehr liebte, dass sie der Versuchung nicht hatte widerstehen können, ihre Gefühle trotz der Gefahr einer Entdeckung zu Papier zu bringen.
Aber wer war dieser Liebhaber von ›Rang und Ruhm‹, dessen Name Harume nicht nennen wollte? Jeder Mann, der mit der Lieblingskonkubine des Shôguns schlief, wurde mit dem Tod bestraft. Selbst eine Frau hätte dieses Schicksal erleiden können, hätte sie intime Beziehungen zu Harume geknüpft. Inwiefern hatten der »Rang und Ruhm« des geheimnisvollen Geliebten die Gefahr vergrößert?, fragte sich Sano. Und hatten die beiden vorangegangenen Mordanschläge etwas mit dieser Affäre zu tun?
Sano rieb sich das Kinn. Er durfte sich nicht zu viel von dieser Spur erhoffen, die von Keisho-in wegzuführen schien. Vielleicht hatte Harume mit diesen Zeilen ja doch die Fürstin gemeint; vielleicht hatte es tatsächlich eine glückliche, intime Zeit zwischen den beiden Frauen gegeben. Doch wenngleich Sano wusste, dass die Liebe häufig Altersschranken überwand, hoffte er, dass Harume den Avancen von Keisho-in nur deshalb nachgegeben hatte, um sich persönliche Vorteile zu verschaffen und dass diese Verse nicht der Fürstin, sondern jemand anders galten.
Aber wem?
Zwar hatte Leutnant Kushida bestritten, geschlechtliche Beziehungen mit Harume gehabt zu haben – aber wenn er gelogen hatte? Vielleicht hatte Kushida das Tagebuch zu stehlen versucht, weil er befürchtete, Harume könnte ihn darin namentlich als ihren Liebhaber benannt haben. Und was war mit Fürst Miyagi? Die Leidenschaft, die aus den Zeilen sprach, und die Hinweise auf körperliche Berührungen und Geschlechtsverkehr deuteten darauf hin, dass Miyagi nicht der geheimnisvolle Liebhaber war; der daimyo schien sich darauf beschränkt zu haben, sich durch das heimliche Anstarren der nackten Harume sexuelle Befriedigung zu verschaffen. Aber das schloss natürlich nicht aus, dass es später vielleicht doch zum Beischlaf gekommen war, auch wenn Miyagi dies bestritt. Und dass ein mächtiger, reicher alter Mann die Liebe eines jungen Mädchens wie Harume gewann, war nicht ungewöhnlich. Somit erhärtete sich wieder der Verdacht gegen Fürst Miyagi und Leutnant Kushida, die Harume möglicherweise aus einem ganz simplen Motiv getötet hatten: Einer von ihnen wollte verhindern, dass seine Affäre mit der Konkubine bekannt wurde oder dass der Shôgun herausfand, dass der Liebhaber Harume geschwängert hatte.
Oder gab es einen anderen, bislang unbekannten Geliebten in Harumes
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