Das Geheimnis
ihrer Schlafkammer zu verstecken, ganz allein, bei geschlossenen Fensterläden. Dann, eines Tages, reiste Kaoru in die Provinz Tosa zurück. Die Erleichterung minderte das Gewicht des Schreckens ein wenig, das Akikos Abkapselung von der Außenwelt bewirkt hatte. Nach zwei Monaten wagte sie sich das erste Mal wieder in den Garten hinaus. Als sie blinzelnd im Sonnenschein stand, tauchte jemand neben ihr auf.
»Ich grüße dich, Cousine.«
Instinktiv zuckte Akiko beim Klang der männlichen Stimme zusammen. Dann erkannte sie ihren 16jährigen Vetter Shigeru, den ersten Sohn des daimyo. Wenngleich sie beide ihr ganzes bisheriges Leben auf dem Anwesen verbracht hatten, kannte Akiko ihren Vetter kaum: Der zukünftige Herrscher der Provinz Tosa war viel zu beschäftigt, als dass er sich mit Mädchen abgegeben hätte. Jetzt sah Akiko, dass der schlaksige junge Mann mit dem krummen Rücken, den wässrigen Augen und dem weichen Mund nichts von der männlichen Brutalität besaß, vor der Akiko sich fürchtete. Nur Shigerus hoher Rang als Fürstensohn schüchterte sie ein.
»Ich habe gesehen, was damals im Stall passiert ist«, sagte Shigeru. »Ich habe es aber erst jetzt meinem Vater erzählt, und der hat Onkel Kaoru fortgeschickt.« Der zukünftige daimyo bedachte Akiko mit einem schüchternen, freundlichen Lächeln. »Ich habe mir gedacht, du würdest das gern wissen.«
Akiko wurde von einer Woge der Dankbarkeit überschwemmt. Ohne dass sie ihn gebeten hätte, war Shigeru ihr zu Hilfe gekommen, wo alle anderen sie im Stich gelassen hatten. Von diesem Augenblick an gehörte Akikos Leben ihrem Vetter. Sie brauchte jemanden, den sie verehren konnte – und Shigeru wiederum brauchte sklavische Hingabe. Die beiden wurden unzertrennliche Gefährten. Akiko schenkte all ihre Liebe dem Vetter. Unter seinem Schutz war sie vor anderen Männern sicher. Shigeru vertraute Akiko seine geheimsten Gedanken an: dass er die Verantwortung hasste und von einem ruhigen Leben träumte, das ganz den weltlichen Genüssen gewidmet war. Niemals versuchte er, Akiko anzurühren. Bald fand sie heraus, was seine Lieblingsbeschäftigung war: Frauen nachzuspionieren.
Akiko hätte ihrem Vetter fast jeden Wunsch erfüllt, und so half sie ihm, sich in die Frauengemächer einzuschleichen, damit Shigeru die Frauen beim Entkleiden und Baden beobachten und sich selbst befriedigen konnte, während Akiko Wache stand. Natürlich wusste Akiko, dass ihr Vetter ihre längst erloschene Zuneigung zu Kaoru bemerkt haben musste und ihnen damals in den Stall gefolgt war, wo er das Geschehen beobachtet – und genossen – hatte, statt einzugreifen. Außerdem wusste Akiko, dass Shigeru derjenige von ihnen beiden war, der von ihrer Beziehung die weitaus größeren Vorteile hatte, ja, dass er Akiko ausnutzte, aber das hätte sie ihm nie gesagt. Sie liebte ihn, und sie brauchte ihn. Deshalb musste sie alles tun, damit ihre Freundschaft bestehen blieb.
Acht Jahre gingen ins Land. Akiko wurde erwachsen. Die erschreckende Aussicht, verheiratet zu werden, zog wie eine düstere Wolke am Horizont auf. Sie konnte den Gedanken nicht ertragen, Shigeru verlassen zu müssen und mit einem fremden Mann zusammenzuleben, der ihren Körper berührte. Die Vergewaltigung durch Kaoru hatte Akiko einen bleibenden körperlichen Schaden zugefügt: Ihre Monatsblutungen wurden von fürchterlichen Krämpfen begleitet, und wahrscheinlich würde sie niemals Kinder bekommen können. Doch dieser Makel würde sie nicht vor einer Trennung von Shigeru und der Ehe mit einem fremden Mann bewahren. Was ihre Verletzung betraf, war nie ein Wort aus dem Kreis der engsten Familienangehörigen hinausgedrungen; Akikos Eltern wollten ihrer Tochter die Möglichkeit wahren, einen wohlhabenden Ehemann zu bekommen.
Dann starb Shigerus Vater, und er wurde der neue daimyo. Die Familie hatte seine Heirat hinausgeschoben, damit der junge Mann in einen mächtigen Samurai-Klan einheiraten konnte, doch der niedere Rang der Miyagis machte sie für die einflussreichen Familien des Landes uninteressant; deshalb beschloss der Miyagi-Klan, seine Besitztümer zu sichern, indem er Shigeru mit einer Verwandten verheiratete. Akikos Zweig der Familie kam am ehesten in Frage – und sie war die älteste Tochter. Shigeru und Akiko heirateten.
Akiko war überglücklich. Nun konnte sie ihr ganzes Leben unter dem Schutz eines Mannes verbringen, der sie niemals anrühren würde, weil er keinerlei sexuelles Interesse an ihr zeigte. »Die Ehe
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