Das Geheimnis
beschäftigt gewesen war. In einem Zeitraum von nur drei Tagen hatte er sich an Reiko gewöhnt; er würde nun immer wissen, wann sie in der Nähe war. Trotz ihrer Streitigkeiten hatte die Ehe diesen seltsamen Zauber bewirkt. Ob Reiko ebenfalls fühlte, dass er zugegen war? Dieser Gedanke gab Sano Hoffnung, dass er und Reiko doch noch Harmonie und gegenseitiges Verständnis entwickeln würden. Als die Empfindung stärker wurde und Sano das Knarren von Fußbodenbrettern hörte, als jemand über den Flur ging, vergaß er die Sorgen des Tages. Reiko kam zu ihm! Sanos Herz schlug schneller, und sein Mund trocknete aus.
Ein dreimaliges Klopfen an der Tür – leise, aber fest. »Herein.« Sanos Stimme war heiser vor Nervosität, und er musste sich räuspern.
Die Tür glitt zur Seite, und Reiko betrat das Zimmer. Sie trug ein rotes, mit goldenen Medaillons bedrucktes Nachtgewand, das die sanften, aber verführerischen Rundungen ihrer zierlichen Figur betonte. Ihr knielanges gelöstes Haar schimmerte wie ein Umhang aus Seide. Sie sah wunderschön und unnahbar aus. In ihrer Körperhaltung spiegelte sich das Selbstbewusstsein ihrer Ahnen, Generationen stolzer Samurai. Ihr Blick war kühl, als sie ein gutes Stück von Sano entfernt niederkniete und sich verbeugte. In gleichmütigem Tonfall sagte sie: »Guten Abend, ehrenwerter Gemahl.«
»Guten Abend«, sagte auch Sano, erschreckt über ihre Förmlichkeit. »Hattest du einen angenehmen Tag?«
»Ja, danke.«
Wo bist du heute gewesen?, wollte Sano fragen. Was hast du gemacht? Aber diese Fragen würden sich wie eine Vernehmung anhören und womöglich einen neuerlichen Ehestreit auslösen. Stattdessen wartete Sano, dass Reiko wieder das Wort ergriff. Zeigte ihr Besuch nicht, dass auch sie sich nach Gesellschaft sehnte?
»Als du heute Morgen unterwegs warst, hat mich mein Vater besucht«, fuhr Reiko schließlich fort. »Er möchte dich morgen sehen. Zur Stunde des Drachen, im Gerichtsgebäude.«
Als Sano erkannte, dass Reiko nur gekommen war, um ihm diese Nachricht zu überbringen, breitete sich tiefe Enttäuschung in ihm aus. »Hat er gesagt, warum ich dorthin kommen soll?«
»Nein. Nur dass eine Verhandlung stattfindet, die dich interessieren wird, meint er. Ich habe ihn gefragt, ob es irgendetwas mit deinen Ermittlungen zu tun hat, aber er wollte es mir nicht sagen.« Ein bitteres Lächeln legte sich auf Reikos Lippen. »Er meint, dass es mich nichts anginge – genau wie du, nicht wahr?«
Es fiel Sano schwer, den Köder nicht zu schlucken. »Danke, dass du mir Bescheid gesagt hast.«
Mit jeder Faser sehnte er sich danach, Reiko zu berühren. Er stellte sich die seidige Fülle ihres Haars zwischen seinen Fingern vor … ihren schlanken Körper, wie er sich an den seinen drängte … Er nahm den verführerischen Duft von Jasmin in sich auf, den sie verströmte, und ihr abweisendes, kaltes Verhalten machte sie nur umso anziehender für ihn. Die Liebe dieser stolzen, schönen Frau zu erobern, war nicht mehr nur Wunsch, sondern zugleich Herausforderung für Sano; es war eine Schlacht zwischen ihm und Reiko, bei der nicht rohe Kraft zählte, sondern kluge Strategie – jene Fähigkeit, derer sich Sano bei seinen Ermittlungen rühmte.
Reiko verbeugte sich und gab ihrem Mann damit zu verstehen, dass sie gehen wollte. Fieberhaft suchte Sano nach einer Möglichkeit, sie bei sich zu behalten, und sprach einfach aus, was ihm als Erstes durch den Kopf ging: »Gestern Nacht … Es tut mir Leid, sollte ich dir wehgetan haben, als ich dich von Leutnant Kushiha weggestoßen habe.«
»Du hast mir nicht wehgetan.« Reikos Stimme blieb ausdruckslos, ihre Miene kalt und verschlossen. »Aber du hast meine Hilfe dringender gebraucht als ich deinen Schutz. Warum gibst du es nicht endlich zu?«
Sano erkannte, dass dieses Gespräch zu nichts führte; es bewirkte allenfalls, dass die Kluft zwischen ihm und Reiko noch tiefer wurde. Verzweifelt stieß er hervor: »Ich gebe zu, dass ich deinen Schwerthieb gegen Kushida bewundert habe.«
Bei diesem Kompliment riss Reiko erstaunt die Augen auf. »Danke, aber … das war wirklich nichts Besonderes.« Ihre Wangen röteten sich vor Freude, was sie noch anziehender machte. »Ich habe diese Technik bloß aus Kumashiros Abhandlung über den Schwertkampf gelernt.«
»Du hast Kumashiros Werke gelesen?« Jetzt war es an Sano, erstaunt zu sein. Der große Schwertkämpfer Kumashiro, der 200 Jahre zuvor gelebt hatte, zählte zu Sanos Vorbildern. Mit einem
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