Das Geheimnis
sensei – Meister Saigo. Er ist im Ruhestand und wohnt in Kanagawa.«
Dieses Dorf war die vierte Station an der Tôkaidô-Fernstraße, ungefähr eine halbe Tagesreise vom banchô entfernt. Sano verabschiedete sich von der Familie Kushida. Vor dem Tor stiegen er und Hirata auf die Pferde.
»Schick Boten über die Fernstraße«, befahl Sano seinem Gefolgsmann. »Sie sollen die Wachen an den Kontrollstationen alarmieren, dass sie nach Kushida Ausschau halten – obwohl ich nicht sicher bin, dass er Edo verlassen wird.«
»Ganz meine Meinung«, erklärte Hirata. »Ich werde Kushidas Beschreibung in der Stadt verteilen lassen und die Torwächter in dieser Gegend bitten, auf den Flüchtigen zu achten. Anschließend …« Hirata holte tief Luft und stieß sie langsam wieder aus. »Anschließend begebe ich mich noch einmal zu Konkubine Ichiteru.«
Die beiden Männer trennten sich. Sano ritt zum Palast, um eine Truppe für eine stadtweite Jagd auf Leutnant Kushida auszuheben, bevor er sich zu Magistrat Ueda begab, um sich auf dessen Wunsch die Gerichtsverhandlung anzuschauen. Ob Kushida nun Harumes Mörder war oder nicht, er stellte eine Gefahr für die Bürger dar. Sano fühlte sich für Kushidas Ergreifung verantwortlich – und für alle Verbrechen, die der Leutnant bis dahin womöglich begehen würde.
Die Verhandlung war bereits im Gange, als Sano an der Villa des Magistrats eintraf, in der auch das Gericht untergebracht war. Leise schlüpfte er in den langen, schummrigen Verhandlungssaal. Magistrat Ueda saß auf dem Podium; sein ernstes Gesicht wurde vom Licht der Lampen beleuchtet, die auf dem Schreibpult vor ihm standen. Links und rechts von ihm knieten Schreiber. Der Magistrat bemerkte Sano und nickte ihm zur Begrüßung zu.
Die Angeklagte trug ein Hemdkleid aus Musselin. Mit gefesselten Füßen und Handgelenken kniete sie vor dem Podium auf einer Strohmatte, die wiederum auf dem shirasu lag, einer viereckigen Fläche, die mit dem weißen ›Sand der Wahrheit‹ bedeckt war. In der Mitte des Saals kniete eine kleine Zuschauermenge.
Während einer der Schreiber das Datum, die Zeit und die Namen der zu Gericht sitzenden Beamten in die Akten eintrug, erinnerte sich Sano daran, dass Reiko ihm erzählt hatte, wie sie in ihrer Jugend Zeugin vieler Verhandlungen geworden war. Er fragte sich, ob sie auch diesmal aus einem Versteck zuschaute. War die Verhandlung von besonderer Bedeutung? Schließlich musste es einen Grund dafür geben, dass der Magistrat ihn hergebeten hatte.
Einer der Schreiber verkündete: »Der Angeklagten Mariko aus Kyobashi wird der Mord an ihrem Ehemann Nakano, dem Sandalenschuster, zur Last gelegt. Hiermit ist die Verhandlung eröffnet. Ich rufe die erste Zeugin auf – Marikos Schwiegermutter.«
Während die Angeklagte in Tränen ausbrach, erhob sich eine alte Frau in der Zuschauermenge. Sie humpelte zum Podium, kniete nieder, verneigte sich vor Magistrat Ueda und sagte: »Vor zwei Tagen, nachdem wir zu Abend gespeist hatten, wurde mein Sohn plötzlich krank. Er sagte, er bekäme keine Luft mehr, hustete und keuchte. Er wollte zum Fenster, um frische Luft zu schnappen, war aber schon so benommen, dass er zu Boden fiel und sich übergab. Zuerst spie er das Essen aus, das er zu sich genommen hatte, dann Blut. Ich habe versucht, ihm zu helfen, doch er hielt mich für eine Hexe, die ihn töten wollte. Mich, seine eigene Mutter!«
Die Stimme der alten Frau bebte vor Kummer und Schmerz. »Er schrie und schlug wild um sich. Ich bin losgeeilt und habe einen Arzt geholt. Es dauerte nur kurze Zeit, bis wir zum Haus zurückkamen, doch mein armer Sohn war bereits tot. Steif wie ein Brett lag er auf dem Boden!«
Mit einem Mal war Sano so aufgeregt, dass seine Ängste und die Müdigkeit wie weggeblasen waren. Der Sandalenschuster hatte die gleichen Symptome gezeigt wie Konkubine Harume! Jetzt wusste Sano, weshalb Magistrat Ueda ihn hergebeten hatte.
»Mariko bereitet jede unserer Mahlzeiten zu«, fuhr die Zeugin fort und warf der Angeklagten einen bitterbösen Blick zu. »Und nur sie hatte die Schüssel meines Sohnes in der Hand, bevor er das Essen zu sich genommen hat. Sie muss ihn vergiftet haben. Die beiden kamen nie gut miteinander aus. Mariko hat sich sogar geweigert, im Bett ihre ehelichen Pflichten zu erfüllen! Und sie hasst die Hausarbeit, das Einkaufen, das Putzen und Nähen. Sie hasste es, meinem Sohn in der Werkstatt und im Laden zu helfen. Und sie hasste es, sich um mich zu kümmern. Wir
Weitere Kostenlose Bücher