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Das Geheimnis

Das Geheimnis

Titel: Das Geheimnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Joh Rowland
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und die Würde eines reinen Lebens nach den Regeln des Bushido. Und wofür? Für eine billige, liederliche Konkubine, die seinen wahren Wert nicht erkannte! Für ein Weibsstück, das sich selbst tätowierte wie eine gewöhnliche Hure! Liebe verwandelte sich in Hass. Kushida gab Harume die Schuld an seinem Unglück und schmiedete Rachepläne. Er wollte in ihr Gemach schleichen, wenn sie schlief, und sie mit dem Speer durchbohren oder sie mit bloßen Händen erwürgen. Diese blutigen, gewalttätigen Fantasien erregten ihn so sehr, wie ihn einst die Träume von körperlicher Liebe erregt hatten.
    Doch nun erkannte Kushida, dass seine Liebe zu Harume nie gestorben war, denn nach ihrem Tod waren weder seine Begierde geschwunden noch seine eifersüchtige Wut. Und nie hätte er damit gerechnet, dass ihn nun schreckliche Schuldgefühle plagten, weil er Harume Schmerz zugefügt hatte. Er hatte das Tagebuch nur deshalb stehlen wollen, weil er befürchtete, Harume könnte darin von seinem tätlichen Angriff auf sie berichtet haben.
    Wie hätte er vorhersehen können, dass er jemals in eine solche Zwangslage geraten könnte? Auf der einen Seite wollte Kushida ohne die geliebte Harume nicht weiterleben, auf der anderen Seite wollte er aber auch nicht ihrer Ermordung wegen sterben. Die Schande einer öffentlichen Hinrichtung würde für immer die Ehre seines Klans besudeln. Er musste Harumes Geist beschwichtigen und seinen inneren Frieden wiederfinden, sonst würde es ihm niemals gelingen, die Ehre seines Familiennamens wiederherzustellen.
    Doch solange er in dieser behelfsmäßigen Zelle eingesperrt war, konnte er nichts unternehmen. Die erzwungene Untätigkeit war eine Qual für Kushida, und seine Unruhe nahm zu.
    »Wie wäre es mit einer Partie Go ?« , fragte Yohei. »Das würde Euren Geist beruhigen, junger Herr.«
    Lass mich lieber hier raus, hätte Kushida ihn beinahe angebrüllt. Am liebsten hätte er in blinder, rasender Wut gegen die Wände gehämmert, doch er zwang sich, mit ruhiger Stimme zu sagen: »Danke, dass du gekommen bist. Aber wie sollen wir Go spielen, wenn ich in der Zelle sitze, und du draußen auf dem Gang bist?«
    Yohei strahlte. »Indem wir zwei Bretter und zwei vollständige Sätze Spielsteine benutzen. Wir machen die eigenen Züge und die des Gegners, indem wir sie uns zurufen.«
    Wenngleich Kushida keine Lust auf eine Partie hatte, nahm in seinem Innern ein Plan Gestalt an. »Also gut«, sagte er.
    Der Gefolgsmann eilte davon und kam mit einem kleinen Kasten aus Lackarbeit wieder, der die schwarzen und weißen Spielsteine enthielt, sowie mit einem vierbeinigen Spielbrett aus Ebenholz, das eine Oberfläche aus Elfenbein besaß, in die ein Gitterwerk aus Linien graviert war. Beides schob er zwischen den Holzstäben des Fenstergitters hindurch.
    »Ihr fangt an, junger Herr«, sagte Yohei.
    Kushida legte einen schwarzen Spielstein an die Schnittstelle zweier Linien. »18 waagerecht, 16 senkrecht«, sagte er.
    »4 waagerecht, 17 senkrecht«, entgegnete Yohei.
    Als er den weißen Spielstein auf die angegebene Stelle setzte, wurde Kushidas Verlangen nach Freiheit schier unerträglich. Jede Faser seines Körpers war zum Zerreißen gespannt. Widerwillig ließ er das langsame, umständliche Spiel über sich ergehen und machte seine Züge eher zufällig. Draußen vor der Tür erklangen Schnarchlaute: Der Wachposten war eingeschlafen.
    »Ihr seid mit den Gedanken nicht bei der Sache, junger Herr«, sagte Yohei. »Ich habe fast all Eure Steine erobert, Ihr aber keinen einzigen von mir.«
    Kushida hasste sich dafür, dass er seinen alten väterlichen Freund täuschen musste, doch ihm blieb keine Wahl. »Du irrst dich, Yohei«, sagte er. »Ich bin auf der Siegerstraße.«
    Im Fenster erschien Yoheis verblüfftes Gesicht; er blinzelte, als er versuchte, in der halbdunklen Kammer Kushidas Spielbrett zu erkennen. »Einer von uns beiden ist mit den Steinen durcheinander geraten.«
    »Das werde wohl ich sein«, sagte Kushida. »Ich kann mich hier drinnen nicht konzentrieren.« Er trat näher an das Fenster heran und senkte die Stimme. »Es wäre besser, wir würden an einem Brett spielen. Dann könntest du darauf achten, dass alle Steine an der richtigen Stelle liegen.«
    Yohei schüttelte den Kopf. »Ich kann Euch nicht herauslassen, junger Herr, das wisst Ihr doch.«
    »Aber du könntest zu mir hereinkommen.« Als er sah, wie der alte Mann unentschlossen die Stirn in Falten legte, drängte Kushida: »Komm schon. Wenn du

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