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Das Geheimnis

Das Geheimnis

Titel: Das Geheimnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Joh Rowland
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Apothekerladens erfüllt. Im hinteren Teil des Zimmers lag eine menschliche Gestalt – die Quelle der schrecklichen Geräusche.
    Sano stolperte über einen Mörser mitsamt Stößel und stieß ein Tragegestell zur Seite, wie fahrende Händler es trugen: eine Holzkonstruktion mit Querstäben, von denen Strohkörbe hingen. Dann kniete er neben der am Boden ausgestreckt liegenden Gestalt nieder.
    »Ich brauche Licht!«, rief er dem Vermieter zu.
    Der Mann öffnete die Fensterläden und zündete eine Lampe an, und Choyeis Gestalt wurde aus dem Halbdunkel gerissen. Er war ein alter, aber kräftig gebauter Mann mit kahlem Scheitel und einem Kranz schmutzigen, verfilzten weißen Haars. Aus einem Gesicht, so grau und rissig wie in der heißen Sonne getrockneter Schlamm, starrten Sano die hervorquellenden Augen des alten Mannes an, in denen sich nacktes Entsetzen spiegelte. Blut lief ihm aus dem aufklaffenden Mund, strömte aus einer Wunde in der Brust und tränkte seinen zerlumpten Kimono. Als Choyei sich vor Schmerzen krümmte und nach Atem rang, erklangen wieder die grässlichen pfeifenden, saugenden Geräusche.
    »O nein, o nein«, jammerte der Vermieter und rang die Hände. »Warum musste das ausgerechnet in einem meiner Häuser geschehen?«
    »Holt einen Arzt«, befahl Sano ihm. Dann betrachtete er die tiefe, klaffende Wunde zwischen den Rippen des alten Mannes, die ihm mit einer scharfen Klinge zugefügt worden war. Abwechselnd sprudelte helles Blut aus der Wundöffnung, um dann wieder von der Lunge aufgesaugt zu werden. »Nein, keinen Arzt«, wandte Sano sich an den Vermieter. »Es hat keinen Sinn mehr.« Sano hatte schon einmal eine solche Verletzung gesehen und wusste, dass sie tödlich war. »Ruft die Polizei.« Choyeis Besucher musste den alten Mann erst vor wenigen Augenblicken niedergestochen haben und dann geflüchtet sein. »Beeilt Euch!«
    Der Vermieter huschte davon. Sano drückte eine Hand auf Choyeis Wunde, um so das Loch im Brustkorb zu verschließen. Das gurgelnde Geräusch verstummte. Gierig holte Choyei Luft und stieß sie wieder aus. »Wer hat Euch das angetan?«, fragte Sano, der schaudernd den Sog des warmen, blutigen Fleisches spürte.
    Der Mund des fahrenden Händlers öffnete und schloss sich mehrere Male, bis er schließlich mit halb erstickter Stimme hervorpresste: »Kunde … Er hatte … bish gekauft.« Aus seinen Nasenlöchern quollen rote Bläschen. »Kam … heute wieder und … stach auf mich ein …«
    Bish – das Pfeilgift, das Konkubine Harume getötet hatte! Der Kunde musste Harumes Mörder gewesen sein und war zurückgekommen, um auch Choyei zu beseitigen, damit der alte Mann den Behörden nicht melden konnte, wer das Gift bei ihm gekauft hatte. Sano warf einen ungeduldigen Blick zur Tür. Er hoffte, dass die Polizei schnellstmöglich erschien, damit die Beamten den Mörder verfolgen konnten, der sich noch in der Gegend aufhalten musste. Doch zuvor brauchte er die Aussagen seines einzigen Augenzeugen.
    »Wer war es, Choyei?« Sano nahm die Hand des sterbenden Mannes und drückte sie. »Sagt es mir!«
    Wieder gab Choyeis Körper ein Übelkeit erregendes Gurgeln von sich; erneut strömte Blut aus der Wunde und wurde wieder aufgesogen. Die Lippen und die Zunge des alten Mannes bewegten sich, als er sich mühte, die Silben eines Namens auszusprechen, der ihm in der Kehle zu stecken schien.
    »Sagt mir, wie er aussah, Choyei!«
    »Nein … Nein!« Choyeis Hand umklammerte Sanos. Sein Mund bildete Worte, doch er brachte keinen Laut hervor.
    »Choyei«, drängte Sano, »sagt es mir!«
    Während der alte Mann zu sprechen versuchte, überlegte Sano blitzschnell, wer als Täter in Frage kommen konnte. Die brutale Stichwunde sprach dafür, dass es Leutnant Kushida gewesen war. War er aus dem Haus seiner Familie geflüchtet, um Choyei zum Schweigen zu bringen?
    »Hat er einen Speer benutzt?«, fragte Sano und zügelte mit Mühe seine Ungeduld.
    In verzweifeltem Todeskampf bäumte Choyei sich wild auf und wälzte sich von einer Seite auf die andere.
    »Wie sah er aus? Sagt es mir, damit ich ihn finden kann!«
    Endlich schien der Kräuter- und Drogenhändler sich in sein Schicksal zu fügen. Sein Griff um Sanos Hand lockerte sich, während er am ganzen Körper zu zittern begann. Mit letzter Kraft tat er einen tiefen, rasselnden Atemzug und flüsterte: »… dünn … dunkler Umhang … mit Kapuze …«
    Diese Beschreibung konnte sowohl auf Kushida wie auch auf Fürst Miyagi zutreffen. Vielleicht

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