Das Geheimnis
das ich lösen soll.«
Den Kopf auf die Seite gelegt und den ausgestreckten Zeigefinger an die Wange gedrückt, bot Midori einen bezaubernden Anblick. Plötzlich grinste sie schelmisch. »Ich habe meinen Lieblingskamm verloren. Wo ist er?«
Sie lachte, als sie Hiratas verwirrten Gesichtsausdruck sah; dann fiel er in das Lachen des Mädchens ein. »Ich muss gestehen, ich weiß es nicht«, sagte er. »Aber wenn Ihr möchtet, komme ich zu Euch und helfe bei der Suche.«
»Das würdet Ihr wirklich tun?« Midori errötete.
Hirata freute sich so sehr über die aufrichtige Bewunderung des Mädchens, dass er bald in ein angeregtes Gespräch mit Midori versunken war und gar nicht bemerkte, wie die Tür des Hauses geöffnet wurde. Er bemerkte Konkubine Ichiteru erst, als sie sich plötzlich zu Wort meldete.
»Ich fühle mich geehrt, dass Ihr meine Einladung angenommen habt, Hirata-san.« Über die Länge des kühlen Laubengangs hinweg wehte ihre dunkle Stimme wie ein warmer Wind heran. »Und ich danke Euch tausend Mal, dass Ihr so … unverzüglich gekommen seid.«
Mitten im Satz unterbrochen, wandte Hirata sich um und sah Ichiteru auf der schattigen Veranda stehen. Ihre elfenbeinfarbene Haut, ihr malvenfarbener Kimono und der Haarschmuck in ihrer kunstvollen Hochfrisur schimmerten, als hätte jemand das spärliche Tageslicht nur auf sie gerichtet. Ihr unergründlicher Blick bannte Hirata. Mit einem Mal kehrte seine Furcht wieder zurück – und seine Lust.
»Weshalb lässt du meinen Gast draußen warten, Midori, und führst ihn nicht zu mir?«, wies Ichiteru das Mädchen zurecht.
Schmerz lag in Midoris Augen. Sie verneigte sich vor der Konkubine und sagte: »Ich bitte um Vergebung, Herrin.« Dann wandte sie sich wieder Hirata zu und sagte tief betrübt: »Ihr seid der edlen Ichiteru wegen gekommen. Das hätte ich wissen müssen. Verzeiht, dass ich Euch aufgehalten habe.« Sie verbeugte sich unbeholfen; dann fügte sie zu Hiratas Erstaunen flüsternd hinzu, sodass Ichiteru es nicht hören konnte: »Da ist eine Sache, die ich Euch noch sagen sollte, Hirata-san …«
»Ja, gut«, erwiderte Hirata ebenso leise, doch Ichiterus verführerische Schönheit hatte ihn längst in ihren Bann geschlagen. »Später.« Damit ließ er das Mädchen stehen und schritt durch den dunklen Tunnel des weinumrankten Laubengangs, wobei ihm vor Aufregung die Fragenliste aus der Hand fiel. Schließlich stieg er die Stufen zur Veranda hinauf und folgte der Konkubine in die Villa.
In der Eingangshalle war es schummrig; die Luft roch nach Mehltau und dem abgestandenen Wasser des Kanals. Konkubine Ichiteru, die ihrem Besucher ein paar Schritte vorausging, schimmerte wie ein geisterhaftes Traumbild. Eine Mischung aus Furcht und gespannter Erwartung ließ Hiratas Beine weich werden. Seine Vernunft und die Vorsicht schrien danach, das Gespräch mit dieser Frau draußen zu führen, in der Sicherheit des Gartens, der von der öffentlichen Straße einzusehen war, doch der machtvolle, bitter-süße Duft ihres Parfums betörte ihn. Er wäre Ichiteru überallhin gefolgt.
Am Ende des Gangs angelangt führte Ichiteru Hirata in ein Gemach, in dem nur eine einzige Lampe auf einem niedrigen Tisch brannte, auf dem ein Krug Sake und zwei Trinkschalen standen. Das Alter und die Luftfeuchtigkeit hatte die Landschafts-Wandgemälde farblos und stumpf werden lassen, sodass sie wie Klippen und Felsen unter Wasser aussahen. Geschnitzte Meeresdämonen schlängelten sich an uralten Truhen und Schränken. Durch die geschlossenen Fensterläden hörte Hirata, wie das Wasser des Kanals träge gegen die steinerne Uferbefestigung schwappte. Auf der Tatami-Matte lag ein Futon, bei dessen Anblick Hirata spürte, wie Hitze in seine Lenden stieg. Mühsam verdrängte er die Bilder Ichiterus, die beim Anblick der Schlafstelle vor seinem geistigen Auge erschienen. Er stellte die erstbeste Frage, die ihm in den Sinn kam. »Wem … gehört dieses Haus?«
Ein flüchtiges Lächeln huschte über Ichiterus Gesicht. »Spielt das eine Rolle?« Sie kniete sich neben den Tisch und bedeutete Hirata, sich zu ihr zu gesellen. »Es zählt nur, dass Ihr hier seid … und dass auch ich hier bin.«
»Äh … ja«, sagte Hirata, der tollpatschig auf den Saum seiner Hose trat und beinahe gestürzt wäre, als er sich Ichiteru gegenüber an den Tisch kniete. Vor Scham schoss ihm das Blut ins Gesicht. Das Zimmer kam ihm gleichzeitig zu kühl und zu warm vor; seine Hände waren kalt wie Eis, während
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