Das Geheimnis
würde.«
»Glaubt es lieber, Herrin«, sagte Ryuko zornig. Im Unterschied zur Fürstin war er sich der harten Wirklichkeit der Politik des bakufu bewusst und deshalb bereit, Sanos Erklärung zu akzeptieren.
»Entsetzlich! Natürlich vergebe ich Euch, sôsakan Sano.«
Wenngleich Ryukos Miene ausdruckslos blieb, würde er die Beleidigung durch Sano nicht so schnell vergessen. Er nickte. »Mir scheint, wir müssen unseren Streit beilegen und uns Seite an Seite einer weit größeren Bedrohung stellen.«
»So ist es«, sagte Sano erleichtert.
Und gemeinsam legten er, Hirata, Fürstin Keisho-in und Priester Ryuko sich einen Plan zurecht, um Kammerherr Yanagisawa auszustechen.
31.
R
eiko war allein in ihrem Schlafgemach und wartete auf die Nachricht, die ihr weiteres Schicksal bestimmen würde. Die Hausmädchen hatten den Futon ausgebreitet, die Lampe auf dem Nachttisch angezündet und die Nachtgewänder bereitgelegt, doch Reiko hatte noch immer die Kleider angelegt, die sie auf ihrer Reise zum Zôjô-Tempel getragen hatte. Unruhig ging sie im Zimmer auf und ab und verharrte immer wieder, wenn sie draußen Stimmen zu hören glaubte. Doch in der Villa war es still; die Dienerschaft und Sanos Sonderermittler schliefen bereits. Nur Reiko fand keine Ruhe.
Falls Sano ihre Nachricht nicht rechtzeitig bekommen hatte, würden in Kürze Soldaten erscheinen, die Villa räumen lassen und sie, Reiko, als Gemahlin eines Verräters verhaften, der die Mutter des Shôguns fälschlicherweise eines schrecklichen Verbrechens beschuldigt hatte. Hatte Sano Reikos Nachricht jedoch bekommen, und nahm er sich ihre Warnung zu Herzen, würde ihnen beiden ein unehrenhafter Tod erspart bleiben.
Ob Sano ihr den neuerlichen Ungehorsam verzeihen würde, war eine andere Frage. Reiko bezweifelte es; viele Samurai würden eher sterben, als das Gesicht zu verlieren. Wahrscheinlich würde Sano sie noch heute Nacht zu ihrem Vater zurückschicken und die Ehe auflösen.
Zu spät – dafür umso schmerzlicher – hatte Reiko die Fehler erkannt, die sie begangen hatte. Warum hatte sie Sanos männlichen Stolz nicht hingenommen und versucht, einen Mittelweg zwischen ihrem Drang nach Unabhängigkeit und seinem Befehl zu finden, sie solle sich aus den Ermittlungen heraushalten? Es war immer schon ihr Fehler gewesen, dass sie haben wollte, was sie nicht bekommen konnte. Nun hatte ihre ungestüme Art sie vermutlich den Mann gekostet, den sie sowohl hasste als auch begehrte – und das mit einer Inbrunst, wie Reiko sie nie zuvor erlebt hatte.
Der Mann, den sie liebte.
Diese Einsicht hatte Reiko wie einen bitter-süßen Schmerz empfunden. Deshalb fürchtete sie nun um ihren Gatten. Wann würde sie endlich erfahren, was in den Gemächern von Fürstin Keisho-in geschehen war? Wann endlich würde jemand kommen und ihrer schrecklichen inneren Anspannung ein Ende bereiten?
Die kleine Flamme der Lampe zitterte wie ein fernes, schwaches Leuchtfeuer der Hoffnung in dunkler Nacht. In den Kohleöfen knisterte und knackte die Glut. Während Reiko auf und ab schritt, bewegte ihr Schatten sich über die Möbel hinweg, die papierenen Trennwände entlang und über die farbigen Wandgemälde. Von Anspannung verkrampften sich ihre Muskeln.
Kurz vor Mitternacht hörte Reiko das Geräusch leiser Schritte auf dem Flur. Sie erstarrte. Es war so weit. Wer immer sich da verstohlen näherte, war Unheil verkündender und bedrohlicher als ein waffenklirrender Trupp Soldaten, wie Reiko ihn eigentlich erwartet hatte. Wahrscheinlich hatte der Shôgun beschlossen, die Verräter in aller Heimlichkeit aus dem Palast verschwinden und hinrichten zu lassen, um den Anschein der Unbesiegbarkeit der Tokugawa zu wahren. Oder hatte Sano einen Boten gesandt, um sie, Reiko, heimlich aus der Villa schaffen zu lassen und auf diese Weise einen Skandal zu vermeiden? Was auch immer der Fall sein mochte, Reiko zählte nicht zu den Menschen, die sich vor der Gefahr duckten. Sie eilte zur Tür und riss sie auf.
Vor ihr stand Sano auf dem menschenleeren Flur. Einen Augenblick lang aus der Fassung geraten trat Reiko zurück. Sie hatte Sano nicht erwartet; außerdem sah er seltsam verändert aus. Auf seinem anziehenden Gesicht lag tiefe Müdigkeit. Er trug keine Schwerter. Seine Miene war ausdruckslos, die Arroganz verflogen. Zum ersten Mal sah Reiko ihn so, wie er wirklich war, statt eine Fassade, die sich auf eiserne Disziplin und 1000 Jahre Samurai-Tradition gründete. Reiko war sprachlos vor
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