Das Geheimnis
Gang. Zwei Soldaten betraten die Schreibstube. Yanagisawa wies auf Ryuko. »Schafft ihn hinaus!«
Doch die Soldaten rührten sich nicht. Ryuko ging zur Tür und sagte über die Schulter: »Ich will nicht länger bleiben als nötig.« Dann hielt er noch einmal inne und drehte sich um. »Ich wollte Euch nur mitteilen, was mit Euch geschehen wird«, fügte er hinzu, und in seiner Stimme lag das Wissen um die eigene moralische Überlegenheit. »Dann könnt Ihr ein wenig länger dafür leiden, dass Ihr meiner Herrin so wehgetan habt.«
Gefolgt von den Wachsoldaten, verließ Ryuko die Schreibstube. Einen Augenblick lang starrte Yanagisawa diesem Boten des Verderbens hinterher; dann knallte die Tür ins Schloss. Yanagisawa kauerte sich auf die Tatami-Matte und schlang die Arme um die Knie. Er hatte das Gefühl, wieder zu dem bedauernswerten kleinen Jungen zu schrumpfen, der er einst gewesen war. Erneut spürte er die Schmerzen im Rücken, wo der hölzerne Schlagstock des Vaters ihn einst getroffen hatte, und die scharfe Stimme seines Erzeugers hallte über all die Jahre hinweg: »Du bist dumm, schwach, unfähig, jämmerlich … Du bringst nichts als Schande über die Familie!«
Yanagisawa atmete die triste Atmosphäre seiner Jugend – dieses Gemisch aus Regen, verfaulendem Holz, zugigen Zimmern und bitteren Tränen. Nun hatte die Vergangenheit die Gegenwart eingeholt. Grässliche Bilder erstanden vor Yanagisawas innerem Auge.
Er sah das Gesicht von Tokugawa Tsunayoshi, verzerrt vor Schmerz und Wut, und hörte ihn sagen: »Wie konntet Ihr mich so behandeln, wo ich Euch doch so viel gegeben habe? Die Verbannung ist eine viel zu milde Strafe für Euch – wie auch der rituelle Selbstmord. Wegen Verrats an meiner Familie verurteile ich Euch zum Tode!«
Yanagisawa glaubte zu spüren, wie eiserne Klammern sich um seine Fuß- und Handgelenke schlossen. Soldaten zerrten ihn auf den Hinrichtungsplatz. Eine johlende Menschenmenge hatte sich eingefunden und schleuderte Steine und Abfall nach ihm, während seine Feinde jubelten und Beifall spendeten. Gaffer umringten ihn, als die Soldaten ihn zwangen, vor dem Scharfrichter niederzuknien. In der Nähe stand das Holzgerüst, an dem seine Leiche aufgehängt und auf der Nihonbashi-Brücke zur Schau gestellt würde. Kammerherr Yanagisawa erkannte, dass die Prophezeiung seines Vaters sich erfüllt hatte: Seine Dummheit und Unfähigkeit hatten die schlimmste Schande über ihn gebracht – die Strafe, die er verdiente.
Das letzte Bild, das er sah, bevor das Schwert ihm den Kopf vom Rumpf trennte, war Sano Ichirō, der neue Kammerherr, der nun den Ehrenplatz zur Rechten des Shôguns einnahm …
Plötzlicher Hass auf Sano brannte in Yanagisawas Innern wie ein rot glühender Spieß, der ihm in die Eingeweide gestoßen worden war, und riss ihn aus seiner Lähmung. Wilder Zorn verscheuchte seine trüben Gedanken. Mit unendlicher Erleichterung spürte Yanagisawa, wie er gleichsam anschwoll und wieder den Raum einnahm, den er als machtvolle Persönlichkeit ausgefüllt hatte; er spürte, wie die Welt wieder erstand, die er durch seine Klugheit und Kraft geschaffen hatte.
Yanagisawa sprang auf. Er brauchte Sano nicht zu weichen – und auch nicht Keisho-in oder Ryuko. Niemals würde er kampflos aufgeben, wie sein Bruder Yoshihiro es getan hatte. Kammerherr Yanagisawa ging in der Schreibstube auf und ab. Sich zu bewegen, irgendetwas zu tun, gab ihm das Gefühl der Macht zurück. Nun richtete er all seine Energie auf die Frage, wie er sein Problem lösen konnte.
Die Ermittlungen im Mordfall zu sabotieren, war Yanagisawas geringste Sorge, wenngleich er noch immer hoffte, dass Sano versagen und in Ungnade fallen würde. Nein – statt sich mit der Behinderung der Nachforschungen zu befassen, legte der Kammerherr sich einen Plan zurecht, wie er an Sano und Fürstin Keisho-in gleichzeitig Vergeltung üben konnte. Wieder würde dieses Vorhaben einem doppelten Zweck dienen. Und wieder würde Shichisaburô daran beteiligt sein.
Der Schauspieler war schuld, dass Yanagisawas unsprünglicher, brillanter Plan gescheitert war. Der Kammerherr bedauerte, ein so enges Verhältnis zu Shichisaburô entwickelt zu haben. Er hätte sich längst von dem Jungen trennen sollen. Und nie hätte er zulassen dürfen, dass seine Vernarrtheit ihn vor der Gefahr blind gemacht hatte, sodass er keinen Könner als Agenten eingesetzt hatte, sondern einen Dilettanten wie Shichisaburô. In einem der seltenen Augenblicke der
Weitere Kostenlose Bücher