Das Geheimnis
Sano.
»Sieht nicht besonders gut aus, hat ein langes Gesicht, hängende Lider und eine tiefe Stimme?«
»Ja, aber …«
»Geschwärzte Zähne und rasierte Augenbrauen.« Hirata lachte befreit auf. »Man stelle sich vor – die ganze Zeit über hatte ich den Beweis in der Hand!«
»Es ist eine interessante Theorie«, gab Sano zu. »Choyeis Vermieter glaubte, in dem Zimmer, in dem der Drogenhändler getötet wurde, einen Mann gehört zu haben. Möglich, dass Fürstin Miyagis tiefe Stimme ihn getäuscht hat. Aber wir haben keinen Beweis, dass die Fürstin in Asakusa war, als der Dolch auf Harume geschleudert wurde. Sicher, sie hätte die Tusche vergiften können, aber auch dafür fehlt uns der Beweis. Was meinst du überhaupt, was für ein Motiv sie hatte?«
»Machen wir uns auf den Weg und stellen wir erst einmal fest, ob Fürstin Miyagi die Frau war, die ich bei der Ratte gesehen habe«, sagte Hirata mit bittendem Unterton. »Die Ratte muss herausgefunden haben, dass diese Frau Choyeis Kundin gewesen war und hat dann versucht, sie zu erpressen. Vermutlich wollte die Frau die Ratte genauso töten, wie sie zuvor Choyei ermordet hat. Wahrscheinlich habe ich der Ratte das Leben gerettet, weil ich genau zum richtigen Zeitpunkt bei ihm erschienen bin.«
Hirata verbeugte sich. »Bitte, sôsakan-sama, bevor Ihr Ichiteru als die Schuldige benennt, gebt mir die Möglichkeit zu beweisen, dass sie nicht die Mörderin ist. Erteilt mir die Erlaubnis, Fürstin Miyagi zu vernehmen!«
Sano versuchte, eine Jagd zu vermeiden, die in die falsche Richtung führte. »Reiko war heute bereits bei den Miyagis«, sagte er. »Hören wir uns erst einmal an, ob sie etwas herausgefunden hat.« Er betrat den Eingangsflur, wo er von einem Diener begrüßt wurde. »Wo ist meine Gemahlin?«, fragte Sano.
»Sie ist nicht daheim, Herr. Aber sie hat das hier für Euch hinterlassen.«
Der Diener hielt Sano einen versiegelten Brief hin.
Sano riss ihn auf und las laut:
»Ehrenwerter Gemahl,
mein Besuch bei Fürst Miyagi war sehr interessant. Ich glaube, dass er Harumes Mörder ist. Er und seine Gattin haben mich eingeladen, heute Abend in ihre Sommervilla zu kommen und mit ihnen den Anblick des Herbstmondes zu genießen. Ich muss diese Gelegenheit nutzen, den daimyo eingehender zu vernehmen und den endgültigen Beweis für seine Schuld zu erbringen.
Mach dir keine Sorgen – die Sondermittler Ota und Fujisawa sowie meine übliche Eskorte begleiten mich. Wir sind morgen früh zurück.
In Liebe,
Reiko.«
Mit einem Mal erschien Sano die Idee, Nachforschungen über Fürstin Miyagi anzustellen, als gar nicht so schlecht. Wenn sie als Täterin infrage kam, war der Gedanke beängstigend, dass Reiko mit ihr zu irgendeiner abgelegenen Sommervilla reiste, und sei es in Begleitung von Sonderermittlern und bewaffneten Wächtern.
»Ich glaube, Konkubine Ichiteru kann noch ein bisschen warten«, sagte er zu Hirata. »Lass uns versuchen, Reiko und die Miyagis einzuholen, bevor sie die Stadt verlassen.«
Mit donnernden Hufen preschten Sano und Hirata bis ans Tor von Fürst Miyagis Anwesen. Sano warf einen besorgten Blick die Straße hinauf und hinunter. »Ich kann Reikos Sänfte nirgends sehen«, sagte er, »und ihre Eskorte auch nicht.« Sosehr er sich auch dagegen sträubte, in ihm stieg die Ahnung auf, dass Hirata Recht hatte und dass Fürstin Miyagi die gesuchte Mörderin war. Furcht und Sorge schnürten ihm die Brust zusammen.
»Beruhigt Euch«, sagte Hirata. »Wir werden Reiko schon finden.«
Sano schwang sich vom Pferd und trat auf einen der beiden Torwächter zu. »Wo ist meine Gemahlin?«, fragte er mit scharfer Stimme und packte den Mann am Waffenrock.
»Was fällt Euch ein? Lasst mich los!«
Der Wachposten stieß Sano von sich, und sein Gefährte packte ihn und hielt ihn fest. Hirata rief rasch: »Die Gemahlin des sôsakan-sama wollte den Fürsten und die Fürstin Miyagi zu ihrer Sommervilla begleiten. Wir möchten mit ihnen reden. Wo sind sie?«
Bei der Erwähnung von Sanos Titel ließ der eine Wächter ihn augenblicklich los und trat zurück, doch weder er noch sein Gefährte gaben Antwort.
»Gehen wir hinein«, sagte Sano zu Hirata.
Die Wächter versperrten das Tor. Auf ihren Gesichtern mischten sich Furcht und Entschlossenheit. Ihr Trotz alarmierte Sano. Irgendetwas stimmte hier nicht …
»Sie sind nicht daheim«, sagte einer der Wächter. »Alle sind fort.«
Von der übermächtigen Furcht gepackt, Reiko könnte in der Villa
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