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Das Geheimnis

Das Geheimnis

Titel: Das Geheimnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Joh Rowland
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Sommervilla entfernt lag, in der Reikos Eskorte sich nun aufhielt. Sie hatte die Männer zurücklassen müssen; ihnen den Befehl zu erteilen, sie zu begleiten und weiterhin zu bewachen, hätte Fürst Miyagis Argwohn erregt. Gefangen zwischen dem Mörder und seiner Gemahlin, versuchte Reiko, ihrer aufsteigenden Panik Herr zu werden. Nur der Gedanke an den Dolch, den sie unter dem Ärmel versteckt hatte, verlieh ihr ein wenig Sicherheit.
    Fürstin Miyagi lachte – ein raues Krächzen, in dem Erregung mitschwang. »Du darfst unseren Gast nicht drängen, Vetter. Der Mond ist längst noch nicht zu voller Schönheit erblüht.« Die Fürstin hatte sich seit dem Morgen auf seltsame Weise verändert. Ihre eingefallenen Wangen waren gerötet, und ihre dünnen Lippen bebten leicht. In ihren Augen waren winzige Spiegelbilder der Laterne auf dem Tisch zu sehen, und ihre ruhelose Energie erfüllte den Pavillon. Sie wedelte mit einem Schreibpinsel und lächelte Reiko an. »Nehmt Euch so viel Zeit, wie Ihr braucht.«
    Was für eine jämmerliche alte Frau, die sexuelle Erregung empfand, indem sie die abartige Lust ihres Mannes auf andere Frauen unterstützte!, dachte Reiko, ließ sich ihre Abscheu jedoch nicht anmerken und bedankte sich höflich bei ihrer Gastgeberin.
    »Möchtet Ihr vielleicht zuvor eine Erfrischung zu Euch nehmen, um Eure schöpferischen Kräfte anzuregen?«, fragte Fürstin Miyagi.
    »Ja, bitte.« Reiko schluckte schwer.
    Der Gedanke, wieder im Beisein der Miyagis zu essen, erfüllte sie mit neuerlicher Übelkeit. Widerwillig nahm sie den Tee und ein rundes süßes Plätzchen entgegen, in das ein ganzes Eigelb als Sinnbild der Mondkugel eingebacken war. Das Gefühl des Gefangenseins verschlimmerte Reikos Unbehagen noch. Sie fühlte, wie die Nacht sich allmählich herabsenkte und den Pfad unsichtbar machte, der den bewaldeten Hang zur Villa und zu ihren Beschützern hinunterführte. Vor dem Pavillon verlief ein schmaler Kiespfad, hinter dem es steil bergab bis zu einem Flüsschen ging, dessen Ufer von Felsblöcken gesäumt waren und dessen Wasser Reiko weit unten am Fuß des Hanges rauschen hörte. Von diesem Anwesen schien es kein Entrinnen zu geben – es sein denn, über den Abgrund hinweg.
    Nachdem Reiko einen Bissen vom Mondkuchen genommen hatte, legte sie ihn auf den Teller, riss sich zusammen und wandte sich an ihre Gastgeber. »Ich möchte Euch darum bitten, ehrenwerter Fürst, das erste Gedicht zu schreiben, sodass ich versuchen kann, Eurem überlegenen Beispiel zu folgen.«
    Fürst Miyagi sonnte sich in Reikos Schmeichelei. Er betrachtete die Landschaft, über die der Mond sein silbernes Licht warf; dann tauchte er den Pinsel in die Tusche und schrieb. Nachdem er fertig war, las er mit lauter Stimme vor:

    » War der Mond über dem Bergkamm aufgegangen,
    Und warf sein strahlend’ Licht übers Land,
    Hob ich die Augen über den Fenstersims
    Und liebkoste mit den Blicken
    Dies wundervolle Bild.

    Nun aber ist der Mond verschwunden
    Und aus Schönheit wurde Asche –
    Allein stehe ich in der kalten Nacht,
    Und warte, dass die Geliebte wiederkehrt. «

    Er richtete einen so viel sagenden Blick auf Reiko, dass sie vor Ekel beinahe schauderte. Der daimyo missbrauchte das ehrwürdige Mond-Ritual zu eigenen Zwecken und sprach eine kaum verhüllte Einladung an Reiko aus, ihm die Geliebte zu ersetzen, die ermordet worden war.
    »Ein wundervolles Gedicht«, sagte Fürstin Miyagi, auch wenn ihr Lob ein wenig gezwungen klang. In ihren Augen stand ein beinahe fiebriges Leuchten.
    Reiko beachtete Fürst Miyagis Anspielungen nicht, sondern nutzte die winzige Möglichkeit, die seine Verse ihr eröffnet hatten. »Wo wir gerade von Kälte sprechen … Gestern war ich am Zôjô-Tempel und wäre fast erfroren. Habt Ihr die Kälte draußen auch so sehr empfunden?«
    »Nein«, erwiderte Fürstin Miyagi. »Mein Gemahl und ich haben den ganzen Tag in unserer Villa verbracht.«
    Dass sie ihrem Ehemann ein Alibi für die Zeit verschaffen wollte, als Choyei ermordet worden war, verwunderte Reiko nicht; doch Fürst Miyagi sagte: »Ich bin eine Zeit lang nach draußen gegangen. Als ich wieder hineinging, warst du verschwunden.« Mürrisch fügte er hinzu: »Du hast mich einfach allein gelassen. Es hat eine Ewigkeit gedauert, bis du wieder zurückgekommen bist.«
    »Nein, nein, da irrst du dich, Vetter.« Ein warnender Beiklang ließ die Stimme der Fürstin schärfer als gewohnt klingen. »Ich habe in den Quartieren der Dienerschaft

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