Das Geheimnis
lebt!«
» Sôsakan-sama … was ist mit Euch?« Auf Hiratas Gesicht mischte sich Verblüffung mit Furcht. Er packte Sano und schüttelte ihn. »Hört mir zu, ich bitte Euch!« Als Sano nur umso lauter lachte, schlug Hirata ihm mit der Faust aufs Kinn.
Der Hieb riss Sano aus seiner Hysterie. Er verstummte abrupt und starrte Hirata an, verwundert, dass sein Gefolgsmann ihn geschlagen hatte.
» Gomen nasai – tut mir Leid«, sagte Hirata, »aber Ihr müsst wieder Herr Eurer Sinne werden. Die Wachposten sagten mir, dass Fürstin Miyagi die Konkubinen ihres Gemahls getötet hat. Sie hat die Mädchen aneinander gefesselt. Die beiden hielten es für ein Spiel. Dann aber schlitzte sie ihnen die Kehlen auf. Als die Wächter und Bediensteten gellende Schreie hörten und herbeigerannt kamen, befahl die Fürstin ihnen, niemandem davon zu erzählen. Dann gingen sie und der Fürst davon, um sich mit irgendjemandem am Palasttor zu treffen und von dort zu ihrer Sommervilla zu reisen. Das war vor zwei Stunden.«
Neuerliches Entsetzen verdrängte Sanos Erleichterung. Obwohl er sich nicht erklären konnte, weshalb die Fürstin die Konkubinen ihres Mannes getötet hatte, ließ diese brutale Tat darauf schließen, dass nicht Konkubine Ichiteru die Mörderin Harumes und Choyeis war, sondern Fürstin Miyagi. Als Sano schaudernd die blutige Szenerie betrachtete, kämpfte er das neuerlich aufsteigende Entsetzen nieder.
»Reiko«, flüsterte er.
Dann eilte er mit schwankenden Schritten aus der Villa, wobei Hirata ihn stützte.
38.
Ü
ber den Hügeln im Westen von Edo bildete sich ein Wandteppich aus goldenen Wolken an einem flammend roten Abendhimmel, an dem die blutrot strahlende Kugel der Sonne versank. Von den fernen Bergen waren nur noch die Gipfel zu sehen, die in ein zartrosa Licht getaucht waren. Auf der Ebene zu Füßen des Massivs flackerten die Lichter der Stadt unter einem Schleier aus Rauch. Die riesige Biegung des Flusses leuchtete wie geschmolzenes Kupfer. Das Läuten von Tempelglocken wurde weit übers Land getragen. Im Osten ging der Vollmond auf, groß und strahlend: Ein Spiegel, auf dem das schwarze Schattenbild der Mondgöttin zu sehen war.
Das Sommeranwesen der Miyagis nahm einen steilen Hügelhang neben der Straße ein. Ein schmaler, unbefestigter Weg führte durch ein Waldstück zu der Villa, einem zweistöckiges Gebäude, an dessen Fachwerkmauern sich wilder Wein rankte. Ein dichter Fichtenhain ließ nur einen Teil des Daches erkennen. Laternen brannten in den Ställen und den Unterkünften der Bediensteten; vor den anderen Fenstern waren die Läden geschlossen. Von den Abendgesängen der Vögel und dem Rascheln trockener Blätter im Wind abgesehen, lag tiefe Stille über dem Anwesen. Hinter der Villa stieg das Gelände an; ein weiteres Waldstück zog sich bis zu einer grasbewachsenen Hügelkuppe hinauf, an deren höchstem Punkt sich ein kleiner Pavillon befand. In diesem Pavillon hatten Fürst Miyagi, seine Gemahlin und Reiko Platz genommen und genossen einen ungehinderten, prachtvollen Blick auf den Vollmond.
Von Ranken bewachsene Holzgitterwände zur Linken und Rechten sowie auf der rückwärtigen Seite des Pavillons schützten die Miyagis und Reiko vor dem Wind, und Kohlebrenner unter dem mit Tatami-Matten ausgelegten Fußboden sorgten für Wärme. Eine Laterne erleuchtete zwei kleine Tische; auf dem einen lag Schreibzeug, auf dem anderen standen Speisen und Getränke. Auf einem kleinen Podium aus Teakholz waren die traditionellen Opfergaben an den Mond dargebracht: Reisbällchen, Sojabohnen, Persimonen, eine Vase mit Herbstgräsern sowie Weihrauch, der aus Brennern emporstieg.
Mit nachdrücklicher Geste nahm Fürst Miyagi einen Tuschepinsel und hielt ihn Reiko hin. »Würdet Ihr das erste Gedicht zu Ehren des Mondes schreiben, meine Liebe?«
»Ich danke Euch, aber ich bin noch nicht zum Schreiben bereit.« Reiko lächelte nervös und wollte von Fürst Miyagi wegrücken, doch die Fürstin saß auf der anderen Seite dicht neben Reiko und verhinderte dies. »Ich … Ich brauche noch Zeit, mir etwas zu überlegen.«
In Wahrheit war Reiko viel zu verängstigt, als dass sie sich auf das Gedichteschreiben hätte konzentrieren können. Auf der Reise von Edo hierher hatte die Anwesenheit ihrer Sänftenträger, der Wachsoldaten und der zwei Sonderermittler Reikos Furcht vor Fürst Miyagi gemildert, doch sie hatte nicht wissen können, dass der Aussichtspunkt für die Mondbeobachtung so weit von der
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