Das Geheimnis
etwas zugestoßen sein, zog Sano sein Schwert. »Macht Platz!«, brüllte er. Die Wächter sprangen hastig zur Seite, und Sano stieß das Tor auf. Gefolgt von Hirata, stürmte er über den Hof, durch das innere Tor und in die Villa hinein. » Reiko?«, rief er.
In dem langen, schummrigen Tunnel des Eingangsflurs herrschte tiefe Stille. Der Geruch von Alter und Verfall, den das Haus verströmte, stieg Sano wie ein giftiges Gas in die Nase. Mit wuchtigen Schritten ging er über Flure, deren Bodenbretter unter seinem Gewicht ächzten und knarrten, und rief den Namen seiner Frau. Er hörte, wie die Wächter ihm folgten und verlangten, er solle stehen bleiben, und wie Hirata sich den Männern in den Weg stellte. Unbeirrt drang Sano weiter in die Villa vor, bis er in die Wohngemächer der Familie gelangte. Dieser Flügel der Villa war so kalt, klamm und dunkel wie eine Höhle. Die papierbespannten Wände zeichneten sich im Licht des anbrechenden Abends als graue Vierecke vor dem Hintergrund der schwarzen Wände ab. Plötzlich nahm Sano einen Ekel erregenden Geruch wahr. Er blieb stehen und schaute sich um. Niemand war zu sehen, und es war so still, dass Sano zuerst nur sein angestrengtes Atmen hörte. Dann vernahm er ein leises Wimmern.
Ihm blieb fast das Herz stehen. Reiko! Entsetzen packte ihn, als er dem Geräusch folgte und an den geschlossenen Türen leerer Gemächer vorübereilte. Seine Abneigung gegenüber den Miyagis verwandelte sich in Furcht, als er sich Reiko als Opfer dieses Paares vorstellte. Das Wimmern wurde lauter. Sano bog um eine Ecke … und blieb abrupt stehen.
Aus einem offenen Türeingang fiel Lampenlicht. Auf dem Flur kniete der Diener, an den Sano sich von seinem ersten Besuch erinnern konnte. Der Mann hatte den Kopf gesenkt und weinte. Als Sano näher kam, schaute er auf.
»Die Mädchen«, jammerte der Mann. Tränen schimmerten auf seinem zerfurchten Gesicht. Mit zittriger Hand wies er in das Gemach.
Als Sano durch die Tür eilte, nahm er augenblicklich einen vertrauten Geruch wahr: widerwärtig, salzig, metallisch. Zuerst konnte er sich keinen Reim darauf machen, was er in dem halbdunklen Zimmer erblickte. Verkrümmte weiße Schemen bildeten einen scharfen Kontrast zu schwarzen Wirbeln und schimmernden roten Pfützen auf dem Bretterboden. Dann klärte sich Sanos Blick. In einer Badekammer, in der ein hölzerner Zuber und ein Wandschirm aus Bambus standen, lagen die nackten, verkrümmten Leichen zweier junger Frauen Seite an Seite. Ihre Hand- und Fußgelenke waren mit Stricken gefesselt. Die Schnittwunden an ihren Kehlen waren so tief, dass ihre Köpfe fast abgetrennt waren. Purpurrotes Blut hatte ihr langes, schwarzes Haar verklebt, war über ihre bleiche Haut geströmt, war gegen die Wände gespritzt, hatte sich auf dem Fußboden verteilt und war an den Rändern des Zubers ins Wasser geströmt.
Grelles Entsetzen lähmte Sano. Das Herz klopfte ihm bis zum Hals. Sein Magen verkrampfte sich, und Übelkeit stieg in ihm auf. Ihm wurde so schwindlig, dass er sich am Türrahmen festhalten musste. Er hörte ein rasselndes Geräusch und erkannte, dass es sein eigenes Atmen war. Mit albtraumhafter Deutlichkeit stachen die Gesichter der beiden Frauen aus Blut und Fleisch und Tod hervor. Und beide besaßen Reikos feine Züge.
»Nein!« Sano blinzelte und rieb sich die Augen, um das scheußliche Bild zu vertreiben, das offenbar der Schock ausgelöst hatte. »Reiko!« Stöhnend fiel Sano neben den Frauen auf die Knie und ergriff ihre Hände.
Kaum hatte er das kalte, tote Fleisch berührt, fiel das albtraumhafte Bild von ihm ab, und er wurde zurück in die Wirklichkeit gerissen. Mit einem Mal konnte er Reikos Lebenskraft fühlen. Er spürte, dass er noch immer mit ihr verbunden war, und sie mit ihm; es war, als könnte er das Läuten ferner Glocken hören. Mit einem Aufschrei riss Sano die Hand los und starrte in die toten Gesichter der Frauen, deren Körper größer und fülliger waren als der Reikos. Diese beiden Frauen hatte er noch nie gesehen. Würgend übergab er sich, als wolle er den Schrecken und die Trauer um Reiko ausspeien. Reiko war nicht tot! Nachdem sein Magen sich geleert hatte, atmete Sano tief durch, und Schluchzer der Erleichterung schüttelten seinen Körper.
Hirata stürmte in die Badekammer. »Gnädige Götter!«
»Sie ist es nicht!«, stieß Sano hervor. »Sie ist es nicht!« In wilder, beinahe verrückter Freude sprang er auf, umarmte Hirata, lachte und weinte zugleich. »Reiko
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