Das Geheimnis
modischen Stil einer Edelfrau, ging es Sano durch den Kopf. Plötzlich raste sein Herz – wie jedes Mal, wenn er sich dem Abschluss erfolgreicher Nachforschungen näherte. »Das habt Ihr nie der Polizei gesagt, oder?«, mutmaßte Sano.
Der eta- Anführer zuckte hilflos mit den Schultern. »Als Harume mich kommen sah, rief sie: ›Nein, nein.‹ Ich wusste, was sie meinte. Wir durften nicht zulassen, dass jemand uns zusammen sah und erkannte, dass wir nicht bloß Fremde waren, die sich zufällig zur gleichen Zeit am selben Ort befanden. Wir mussten vermeiden, dass die Polizei sich erkundigte, was ich bei Harume zu suchen hätte oder weshalb ich mich in Dinge einmischte, die mich nichts angingen. Deshalb …«
Sein tiefer Seufzer offenbarte die innere Qual eines Mannes, der seiner Geliebten nicht hatte helfen dürfen. »Ich habe mich umgedreht und bin davongegangen. Jetzt muss ich mit dem Wissen leben, dass die Polizei den Meuchler vielleicht gefasst hätte, wäre ich standhaft geblieben und hätte berichtet, was ich gesehen habe. Harume könnte noch leben.« Mit tonloser Stimme fügte er hinzu: »Aber so ist es nun einmal.« Sano fragte sich, wie viele Male jeden Tag Danzaemon darum kämpfte, das Schicksal so ergeben hinnehmen zu können. »Ich kann weder in der Zeit zurückreisen, noch kann ich die Welt verändern.«
»Was Ihr mir gesagt habt, wird mir helfen, Harumes Mörder vor Gericht zu bringen«, erklärte Sano. »Auf diese Weise werdet Ihr wenigstens die Genugtuung haben, den Mord gerächt zu sehen.«
Sano erkannte, dass dies dem eta nur ein schwacher Trost war: Danzaemons Mund wurde hart, und in seinen Augen lag Verzweiflung. Sano dankte dem eta- Anführer für dessen Bemühungen und erhob sich zum Gehen.
»Ich begleite Euch zum Tor«, sagte Danzaemon.
Sie verließen das Haus, holten Sanos Pferd und gingen schweigend durch die eta- Siedlung, wobei Danzaemons Stellvertreter und Mura sie eskortierten. Am Tor verbeugte der eta- Anführer sich zum Abschied. Nach einem Moment erwiderte Sano die Geste. Dank Danzaemons Hinweis glaubte Sano nun zu wissen, wer Harume ermordet hatte. Als er über den unbebauten Landstreifen ging, drehte er sich noch einmal um und warf einen letzten Blick auf Danzaemon.
Flankiert von Mura und seinen Stellvertretern, stand der Anführer der Ausgestoßenen stolz vor der schmutzigen, übel riechenden Siedlung, in denen es von Tausenden von Menschen nur so wimmelte, Jung und Alt, die Danzaemon verehrten und auf ihn angewiesen waren. Was für einen großartigen daimyo er abgegeben hätte, wäre er nicht von so niederer Geburt gewesen! Es war ein lästerlicher Gedanke, doch Sano konnte sich Danzaemon viel eher an der Spitze eines Heeres vorstellen, als Tokugawa Tsunayoshi.
37.
K
onkubine Ichiteru ist die logische Schuldige«, sagte Sano. »Im Tempelbezirk Kannon in Asakusa hat eine Frau einen Dolch nach Harume geschleudert. Ichiteru war am fraglichen Tag dort; sie hat kein Alibi. Außerdem hatte sie Zugang zu Harumes Gemach und hätte sich das Pfeilgift von Choyei besorgen können, als sie den Liebestrank kaufte, den sie dir verabreicht hat, Hirata.«
Das Gesicht von Sanos jungem Gefolgsmann war ausgezehrt vor Kummer. »Ich kann einfach nicht glauben, dass Ichiteru eine Mörderin ist«, sagte er zum dritten Mal, seit er und Sano sich vor dem Palast zu Edo getroffen hatten, um die Ergebnisse ihrer Ermittlungen zu vergleichen. Während sie nun in das Beamtenviertel auf dem Palastgelände ritten, weigerte Hirata sich noch immer, eine mögliche Schuld seiner Verführerin einzugestehen. »Vielleicht ist Danzaemon im Irrtum. Vielleicht hat er etwas anderes gesehen, als er glaubt.«
Sano zügelte seine Ungeduld und ließ den Blick über den Palasthügel schweifen. Die Sonne des Spätnachmittags ließ die Dächer der Gebäude bronzen schimmern und die Bäume in dem Waldstück rot und golden aufleuchten. Schwarzblaue Schatten krochen aus den Kasernengebäuden, die sich die Straße entlangzogen, und tauchten das Viertel in ein verfrühtes Dämmerlicht. Sano war müde und hungrig und sehnte sich nach einem heißen Bad, um sich den Schmutz der eta- Siedlung von der Haut zu waschen. Er sehnte sich danach, Reiko zu sehen. Er sehnte sich danach, den erfolgreichen Abschluss des Falles mit ihr zu feiern. Was er jetzt am wenigsten gebrauchen konnte, war zusätzlicher Ärger durch Hirata.
»Ichiteru wird einer Vernehmung nicht mehr entgehen«, sagte er mit einem Beiklang von Endgültigkeit.
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