Das Geheimnis
»Inzwischen wird Fürstin Keisho-in dem Shôgun von unserem Missverständnis erzählt haben. Er wird uns wieder Zugang zum Inneren Schloss gewähren.« Er hielt kurz inne und fügte dann hinzu: »Es gibt zu viele Beweise, die gegen Ichiteru sprechen. Und wenn du diese Frau auch noch so gerne schützen möchtest, Hirata, du wirst deine Parteilichkeit aufgeben müssen, ob es dir nun gefällt oder nicht.«
»Ich weiß.« Hirata schlang die Zügel um die Handgelenke. »Es ist nur … Ich kann einfach nicht glauben, dass ich mich so sehr in einem Menschen getäuscht haben soll. Ich habe immer noch das Gefühl, dass Ichiteru nicht die Mörderin war. Jeden Tag hoffe ich, einen Beweis für Ichiterus Unschuld zu finden und dafür, dass ich kein Narr bin. Ich war sicher, dass Leutnant Kushida der Täter ist, und habe in der ganzen Stadt nach ihm gesucht.« Vor Sanos Villa stiegen die Männer von den Pferden. Auf dem Hof nahm ein Stallbursche die Tiere entgegen. Hirata stieß einen schmerzlichen Seufzer aus. »Jetzt aber …«
Vor den Kasernen hatten sich die Sonderermittler und ihre Familien zu einem Plausch zusammengefunden, wie sie es häufig taten, bevor sie zu Abend aßen. Heute war außerdem eine Gruppe Jungen zu sehen, die sich Übungskämpfe mit Holzschwertern lieferten. Die Männer feuerten sie an, während die Frauen schwatzten. Eine junge Mutter spielte Ball mit ihrem kleinen Kind. »Wir alle machen Fehler, Hirata«, sagte Sano. »Gehen wir.«
Doch Hirata hörte ihm gar nicht zu. Wie angefroren stand er auf dem Hof und starrte auf Mutter und Kind, einen verdutzten Ausdruck auf dem Gesicht. »Oh«, sagte er, um dann mit seltsamer Betonung zu wiederholen: » Oh! «
»Was ist?«, fragte Sano.
»Mir ist gerade etwas eingefallen.« Plötzliche Erregung ließ Hiratas Gesicht wieder lebendiger erscheinen, fast so jungenhaft wie früher. »Jetzt weiß ich, dass Ichiteru nicht Harumes Mörderin ist.«
Sano musterte ihn verärgert. »Hör endlich damit auf. Genug ist genug. Ich will jetzt baden und essen und mich mit Reiko unterhalten. Dann gehen wir ins Innere Schloss.«
Damit drehte Sano sich um und betrat seine Villa. Hirata rannte ihm hinterher. »Wartet, sôsakan-sama! Lasst mich erklären.« Als sie in der Eingangshalle die Straßenschuhe auszogen und in Hausschuhe aus Stoff schlüpften, fügte Hirata hinzu: »Ich glaube, ich habe den Mörder neulich gesehen.«
»Was?« Die Hand am Türgriff blieb Sano stehen.
Ein unzusammenhängender Wortschwall sprudelte aus Hirata hervor. »Als ich die Ratte aufgesucht habe, da dachte ich, es wäre etwas anderes, aber jetzt, da ich sehe, was vor sich geht … ich hätte es erkennen müssen.« Er hielt inne; dann stieß er hervor: »Sie hat nichts verkauft, sie hat ihn bezahlt!«
»Langsam, langsam, ich komme nicht mehr mit«, sagte Sano. »Erzähl von Anfang an.«
Hirata holte tief Luft und versuchte, seine Erregung zu zügeln. »Ich habe der Ratte Geld gegeben, damit er nach Choyei Ausschau hält. Später bin ich noch einmal zu ihm gegangen, um ihn zu fragen, ob er schon etwas herausgefunden hat. Eine Frau war bei ihm im Zimmer. Sie feilschten um irgendetwas; es ging um ein Geschäft. Als der Rattenmann schließlich aus dem Zimmer kam, sagte er, die Frau habe ihm soeben ihr missgebildetes Kind für seine Monstrositätenschau verkauft.« Bemüht, langsam zu sprechen, fuhr Hirata fort: »Als ich vorhin die Frau von Sonderermittler Yamada mit ihrem Sohn spielen sah, fiel es mir wieder ein.
Der Rattenmann sagte mir, er könne Choyei nicht finden. Dann gab er mir das Geld zurück, das ich ihm im Voraus bezahlt hatte. Ich hatte den Verdacht, dass er den Drogenhändler in Wahrheit doch gefunden hatte, und dass Choyei ihn bestochen hatte, den Mund zu halten. Jetzt bin ich sicher, dass es die Frau war, die ich gesehen habe … Ich meine, sie hat der Ratte Geld geboten, nicht umgekehrt. Während ich mit der Ratte geredet habe, ist die Frau verschwunden. Sie war keine Mutter, die ihr Kind verkaufen wollte. Sie muss die Mörderin gewesen sein! Bestimmt hat sie das Tokugawa-Wappen an meiner Kleidung gesehen und richtig vermutet, wer ich bin und was ich wollte, als ich die Ratte nach Choyei gefragt habe.«
»Aber Ichiteru ist die einzige weibliche Verdächtige.« Noch während er diese Worte sagte, fiel Sano ein, dass dies nicht stimmte.
Hirata entging es nicht. »Ich habe Fürstin Miyagi noch nie gesehen«, meinte er. »Wie sieht sie aus?«
»Sie ist Mitte 40 …«, begann
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