Das Geheimnis
Sie wand sich aus dem Griff der Fürstin und sprang auf. Sie wollte zur offenen Vorderseite des Pavillons stürmen. Doch Fürstin Miyagi bekam den Zipfel von Reikos Schärpe zu fassen und zerrte daran, riss sie nach hinten und packte ihren Knöchel. Reiko verlor das Gleichgewicht und stürzte rückwärts auf den Esstisch. Speisen und Geschirr wurden durch die Luft geschleudert. Der Aufprall jagte einen feurigen Schmerz durch Reikos Körper. Fürstin Miyagi warf sich kreischend auf sie.
»Schneeflocke! Zaunkönig!«, jammerte der daimyo und kauerte sich verängstigt in eine Ecke. »Nein, nein … Cousine, du hast den Verstand verloren! Hör auf. Bitte, hör auf!«
Reiko versuchte, die Frau des daimyo von sich herunterzuschleudern, doch ihre Arme und Beine hatten sich in den Falten ihres weiten Kimonos verfangen und besaßen kaum Bewegungsspielraum. Auch an den Dolch kam Reiko nicht heran. Hilflos wand sie sich, als die Fürstin beide Hände nach ihrer Kehle ausstreckte. Mit letzter Kraft stieß Reiko die Stirn nach vorn und spürte den schrecklichen Schmerz, als Knochen auf Knochen traf. Einen Augenblick lang wurde ihr schwarz vor Augen. Fürstin Miyagi schrie, warf die Hände vors Gesicht und bäumte sich auf. Doch bevor Reiko das Messer ergreifen konnte, hatte die Fürstin den Schmerz und den Schreck überwunden. Blut lief ihr aus dem Mund; ihre Lippen waren aufgeplatzt, die Schneidezähne abgebrochen. Wahnsinn loderte in ihren Augen, als sie sich wieder auf ihre Gegnerin warf. Die beiden Frauen krachten gegen die Gitterwand, dass das Holz zersplitterte. Ein kalter Windstoß fuhr in den Pavillon.
»Hör auf, Cousine!«, rief Fürst Miyagi mit durchdringender Stimme.
Verzweifelt und voller Enttäuschung musste Reiko erkennen, dass sie, die an die Kraft der Frauen glaubte, die Gattin des daimyo unterschätzt hatte. Fürstin Miyagis unbändiger Wille, sich selbst und ihren Mann zu schützen, war ebenso groß wie Reikos Entschlossenheit, Sano bei seiner Arbeit zu helfen. Sano hatte Fürstin Miyagi für eine bloße Sklavin ihres Mannes gehalten und sie nie ernsthaft als Verdächtige betrachtet … und wie ein gedankenloser Dummkopf war Reiko seinem verhängnisvollen Beispiel gefolgt, indem sie die Fürstin für eine schwächliche ältere Frau gehalten hatte, die kaum imstande war, Gewalt anzuwenden geschweige denn zu töten. Nun musste Reiko für ihre Dummheit büßen. Zwar hatte sie Recht gehabt mit ihrem Verdacht, der Täter sei im Hause der Miyagis zu finden, doch die Schuld an den Morden hatte sie dem Falschen gegeben. Sie hatte Fürstin Miyagis Mordlust missdeutet, die ihr sexuelles Vergnügen bereitete; sie hatte jeden Hinweis übersehen, der dem Verhalten dieser Frau zu entnehmen gewesen war. Selbst das Gedicht – eine Art verschleiertes Geständnis – hatte Reiko nicht als das erkannt, was es war. Genau wie Sano hatte auch sie sich vom gesellschaftlichen Rang der Miyagis blenden lassen.
»Hilfe!«, schrie Reiko. In diesem Augenblick hätte sie männlichen Schutz willkommen geheißen. »Ermittler Fujisawa … Ota … helft mir!«
Fürstin Miyagi lachte wahnsinnig, während sie ihr Opfer trat und schlug und kratzte. Sie zerrte an Reikos Haar, dass die Nadeln und Kämme sich lösten und sich prasselnd auf dem Bretterboden des Pavillons verstreuten. »Schrei du nur! Niemand wird kommen!«
Sie packte Reikos Kinn und drückte es nach hinten. Reiko versuchte verzweifelt, sich aus dem Griff zu befreien, doch die Fürstin besaß schier übernatürliche Kräfte, wie nur der Irrsinn sie verleiht. Mit den Knien presste sie Reiko auf den Boden. Dann zog sie einen Dolch unter ihrer Robe hervor und hielt die Klinge so nahe an Reikos Gesicht, dass die Schneide ihre Lippen berührte.
Von einem Augenblick zum anderen gab Reiko jede Gegenwehr auf. Den Blick auf den scharfen Stahl gerichtet, konnte sie kaum mehr atmen. Sie stellte sich die beiden Konkubinen vor, abgeschlachtet wie Tiere, und spürte, wie jede Faser ihres Seins danach schrie, vor dieser Waffe zurückzuweichen, die nun ihren Körper zu verstümmeln drohte. Nur einmal hatte sie sich in einer ähnlich gefährlichen Lage befunden: bei einem Schwertkampf, den sie vor langer Zeit in Nihonbashi geführt hatte. Damals hatte sie sich in ihrer jugendlichen Dummheit und Selbstüberschätzung für unbesiegbar gehalten, bis sie schockiert die eigene Sterblichkeit hatte erkennen müssen – so wie auch jetzt wieder. Sie sehnte Sano herbei und bereute bitter ihre
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