Das Geheimnis
nach dem Rechten gesehen. Hättest du genauer hingeschaut, wäre es dir nicht entgangen. Ich habe das Haus überhaupt nicht verlassen.«
Reiko ließ sich ihre Freude nicht anmerken. Wenn der daimyo dumm genug war, sein eigenes Alibi zunichte zu machen, würde es umso leichter sein, ihm ein Geständnis zu entlocken. Reiko nahm sich ein eingelegtes Radieschen vom Tisch. Die saure Speise regte ihren Speichelfluss so sehr an, dass sie wieder an Gift denken musste und eine Gänsehaut bekam, als sie den Bissen herunterschluckte. »Wie köstlich! Und wenn man bedenkt, welch lange Reise dieses Gemüse hinter sich hat, um auf diesen Tisch zu kommen! Als ich noch klein war, hat mein Kindermädchen mich oft ins Hafenviertel Daikon mitgenommen, damit ich mir die Schiffe anschauen konnte, die Gemüse nach Edo brachten. Daikon ist ein sehr interessanter Ort. Wart Ihr schon einmal dort, Fürst Miyagi …?«
Hastig meldete sich erneut die Fürstin zu Wort. »Ich muss leider gestehen, dass weder mein Gemahl noch ich selbst je das Vergnügen hatten.«
Der daimyo hatte bereits den Mund geöffnet, um zu antworten, doch seine Frau hielt ihn mit einem Blick davon ab. Der Fürst blickte verwirrt drein; dann zuckte er mit den Schultern. Es war nicht zu übersehen, dass zumindest er schon einmal in Daikon gewesen war. Reiko unterdrückte ein Lächeln; sie war nun ganz sicher, dass Fürst Miyagi Choyeis Mörder war.
»Möchtet Ihr es jetzt mit einem Gedicht versuchen, meine Liebe?«, fragte die Fürstin.
Was für ein kläglicher Versuch, ihren Mann daran zu hindern, Bemerkungen zu machen, mit denen er sich selbst belastete, Bemerkungen, die dem sôsakan-sama des Shôguns letztlich doch zu Ohren kommen würden! Reiko wählte ein klassisches Thema für ihr Gedicht. Sie schrieb ein paar Zeilen und las dann laut vor:
» Der Mond, der auf diesen Pavillon scheint –
Sein Licht fällt auch auf den Kannon-Tempel
Zu Asakusa …«
Bevor sie sich wieder an den Fürsten wenden konnte, zitierte der daimyo, von ihrem Vers angeregt:
» In der Nacht frisst ein Wurm
Sich heimlich in einen Apfel,
Ein Vöglein im Käfig
Singt voller Lust,
Die milchige Flut des Himmelsschoßes
Strömt auf meine Hände.
Doch auf dem Begräbnisplatz
Ist’s still und leblos. «
Der derbe sexuelle Symbolismus und die krankhafte Besessenheit des Fürsten, was den Tod betraf, stießen Reiko ab. Sie schauderte innerlich bei dem Gedanken, von Fürst Miyagi angestarrt zu werden, wenn sie nackt auf einem Futon lag. »Asakusa«, sagte sie, »war immer schon einer meiner Lieblingsorte, besonders am Tag der 46.000. Seid Ihr dieses Jahr auch dort gewesen, ehrenwerter Fürst?«
»Die Menschenmengen sind nichts für uns«, antwortete Fürstin Miyagi. Wenngleich es Reiko störte, dass die Fürstin sich dauernd einmischte, war sie andererseits froh darüber, dass sie zugegen war, denn im Beisein seiner Gemahlin würde der daimyo gewiss keine handgreiflichen Annäherungsversuche wagen. »An bedeutenden religiösen Feiertagen gehen wir niemals nach Asakusa.«
»Aber dieses Jahr haben wir eine Ausnahme gemacht … Erinnerst du dich nicht?«, sagte Fürst Miyagi. »Ich hatte Schmerzen in den Gelenken, und du meintest, der heilende Rauch aus dem Weihrauchbrenner vor dem Kannon-Tempel könnte mir helfen.« Er kicherte. »Du wirst vergesslich, Cousine.«
Reiko horchte auf. Fürst Miyagi war am Tag des Dolchangriffs auf Harume in Asakusa gewesen! Ob sie auch erfahren konnte, ob er in ihrer Nähe gewesen war? »Die chinesischen Laternen auf dem Marktplatz waren wundervoll«, sagte sie. »Habt Ihr sie auch gesehen?«
»Leider nein. Mein schlechter Gesundheitszustand hat mir dieses Vergnügen nicht gestattet«, entgegnete der daimyo. »Ich habe im Garten des Tempels geruht. Meine Gemahlin hat sich die Sehenswürdigkeiten ohne mich angeschaut.«
Mit offensichtlicher Verärgerung sagte Fürstin Miyagi: »Wir kommen von Thema ab – dem Zweck unserer Reise.« Immerzu drehte sie den Schreibpinsel in ihren zitternden Fingern; ihr Moschusgeruch nahm zu, als würde er von der Hitze ihres Körpers verstärkt. »Lasst uns ein weiteres Gedicht verfassen. Diesmal beginne ich.
Möge das klare Licht des Vollmonds
Meinen Geist vom Übel reinigen! «
Der Himmel war dunkler geworden. Die Nacht senkte sich über die Stadt, und am Firmament funkelten die Sterne wie Juwelen im silbrigen Mondlicht. Angeregt von einer Sage über zwei Sternbilder, die sich einmal jährlich im Herbst treffen,
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