Das Geheimnis
bedrängte sie weiter, bis er schließlich völlig den Verstand verlor und Harume drohte, sie zu ermorden.«
»Abscheulich!« Fürstin Keisho-in verzog das Gesicht. Dann fragte sie vorwurfsvoll: »Warum hat mir niemand davon erzählt?«
Die Hofdame warf Sano einen schmerzerfüllten Blick zu. Der sôsakan erkannte, dass Chizuru der Mutter des Shôguns davon erzählt hatte – doch diese hatte es vergessen.
»Was geschah dann?«, fragte Sano.
»Ich wollte den Anschuldigungen zuerst nicht glauben«, antwortete Chizuru. »Leutnant Kushida hatte zehn Jahre lang im Inneren Schloss gedient, ohne dass es irgendwelche Probleme mit ihm gegeben hätte. Er ist ein aufrechter und ehrlicher Mann. Konkubine Harume hingegen war erst kurze Zeit bei uns.« Der Tonfall der otoshiyori ließ erkennen, dass sie Harume nicht für so »aufrecht und ehrlich« gehalten hatte und die Konkubine als wahrscheinliche Ursache des Vorfalls betrachtete. »Jedenfalls werden solche Anschuldigungen immer sehr ernst genommen. Den männlichen Bediensteten im Inneren Schloss ist es per Gesetz untersagt, an die Frauen heranzutreten oder gar ein engeres Verhältnis mit ihnen einzugehen. Solche Vergehen werden mit Entlassung bestraft. Ich habe die Angelegenheit dem Befehlshaber der Palastwache vorgebracht. Leutnant Kushida wurde so lange von seinen Pflichten entbunden, bis die Anklagen, die gegen ihn erhoben werden, untersucht worden sind.«
»Wurden diese Untersuchungen schon abgeschlossen?«, fragte Sano.
»Nein. Und jetzt, da die ehrenwerte Harume tot ist …«
Müssen die Anklagen fallen gelassen werden, da die Klägerin sie nicht mehr beweisen kann, vollendete Sano den Satz in Gedanken. Was für ein Glück für Leutnant Kushida, dass Harumes Tod ihn vor der Schande bewahrt hatte, sein Amt zu verlieren. Sano notierte den Leutnant – wie auch die eifersüchtige Konkubine Ichiteru – im Geiste ganz oben auf der Liste jener Personen, die er vernehmen musste.
»Rüpelhafte Wachposten, neidische Konkubinen«, lamentierte Keisho-in. »Abscheulich! Sôsakan-sama, Ihr müsst den Mörder meiner süßen kleinen Harume finden und ihn bestrafen! Ihr müsst uns alle vor dieser verderbten, gefährlichen Person bewahren!«
»Dann müssen meine Beamten das Innere Schloss durchsuchen und mit den Bewohnern reden«, erwiderte Sano. »Habe ich Eure Erlaubnis dazu?«
»Gewiss, gewiss!« Fürstin Keisho-in nickte nachdrücklich. Dann erhob sie sich schnaufend und prustend und winkte Hofdame Chiruzu, sie zu stützen. »Es wird Zeit für meine Gebete. Bitte, kommt recht bald wieder und berichtet mir von Euren Fortschritten.« Breit lächelnd blickte sie Hirata an. »Auch Euch hoffe ich bald wiederzusehen, junger Mann.«
Nach der förmlichen Verabschiedung flüchtete Hirata fast aus dem Gemach. Sano folgte ihm. Kurz fragte er sich nach dem Grund für die untypische Verlegenheit seines Gefolgsmanns; dann aber dachte er voller Eifer daran, wie viel Arbeit nun vor ihnen lag. Doch als sie das Palastgebäude verließen, war er froh darüber, dass es bereits zu spät war, um noch mit den Verhören der Zeugen und der Verdächtigen zu beginnen, und dass er den Shôgun erst morgen aufsuchen musste. Zu Hause wartete Reiko. Und die Hochzeitsnacht lag vor ihnen.
7.
A
m Eingang zu seiner Villa wurde Sano von Dienern begrüßt. Sie nahmen ihm Umhang und Schwerter ab und führten ihn in die Wohnhalle, in der Laternen und Holzkohleöfen brannten; die Wände zierte ein friedlich-heiteres Gemälde, das eine Berglandschaft zeigte. Sano setzte sich auf seidene Kissen und spürte, wie die Spannung aus seinem Körper schwand und eine erregende Vorfreude von ihm Besitz ergriff. Hirata hatte sich zur Polizeikaserne begeben, um Sanos Sonderermittlern den Befehl zu erteilen, das Anwesen während der Nacht zu bewachen. Bis morgen würden Reiko und Sano ungestört sein.
»Wünscht Ihr eine Mahlzeit, Herr?«, fragte Sanos oberster Diener.
Sano nickte; dann fragte er: »Wo ist meine … Ehefrau?« Er hatte gestockt, weil das Wort ihm noch fremd war, doch zugleich empfand er es als so wohltuend wie einen Becher Wasser nach einer langen Reise durch ein trockenes Land.
»Ihr wurde bereits mitgeteilt, dass Ihr daheim seid. Eure Gattin kommt sofort zu Euch.« Der Diener verneigte sich und verließ die Wohnhalle.
Sanos Herz schlug immer schneller, während er wartete; sein Magen verkrampfte sich. Dann glitt die Tür zur Seite. Sano setzte sich auf. Reiko betrat das Zimmer, gekleidet in einen
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