Das Geheimnis
Liebhaber, wie Sano zu Ohren gekommen war. Zweifellos hatte Ryuko die Fürstin dazu veranlasst, den Shôgun um Geld zu bitten. Dass eine solche Macht in den Händen des Priesters lag, stellte eine erhebliche Bedrohung für die Stabilität des Landes dar. Schon seit Jahrhunderten stellte die buddhistische Priesterschaft immer wieder Armeen auf und forderte die Herrschaft der Samurai heraus. Und welche Ironie, dass es Beamte gab, die Tokugawa Tsunayoshi zwar vor skrupellosen Konkubinen schützten, nicht aber vor der gefährlichsten Frau von allen!
Hofdame Chizuru erschien an einer Biegung des Ganges, näherte sich den Gemächern ihrer Herrin und steckte den Kopf durch die Tür. Auf irgendein Zeichen hin, das die Mutter des Shôguns ihr gegeben haben musste, wandte sie sich Sano und Hirata zu und sagte: »Die Fürstin wird euch nun empfangen.«
Die beiden Männer betraten das Gemach. Keisho-in saß inzwischen allein auf den Seidenkissen und paffte ihre Pfeife. Vom Shôgun war nichts mehr zu sehen, doch die Brokatvorhänge hinter Keisho-in bewegten sich, als wäre soeben jemand hindurchgeschlüpft. Sano und Hirata knieten nieder und verneigten sich.
» Sôsakan Sano und sein oberster Gefolgsmann Hirata«, verkündete Hofdame Chizuru und kniete sich unweit der Fürstin ebenfalls nieder.
Die Mutter des Shôguns betrachtete ihre Besucher mit unverhohlener Neugier. »Ihr seid also die Männer, die so viele dunkle Geheimnisse aufgedeckt haben? Wie aufregend!«
Aus der Nähe betrachtet sah Keisho-in nicht mehr so jung aus, wie es zunächst den Anschein gehabt hatte. Ihr rundes Gesicht mit den feinen, regelmäßigen Zügen mochte einst anziehend gewesen sein, doch selbst der weiße Puder konnte die tiefen Falten in ihrer Haut nicht gänzlich verbergen. Leuchtendes Rot auf Wangen und Lippen verliehen ihr einen Anschein von Frische, den das gelbliche, rot geäderte Weiß ihrer Augen Lügen strafte. Über dem üppigen Busen, der vom Alter schlaff geworden war, wackelte bei jeder Kopfbewegung ein Doppelkinn. Ihr Haar besaß die unnatürliche stumpfe Schwärze, die auf ein Färbemittel hindeutete, und wenn sie lächelte, entblößte sie ein geschwärztes Gebiss. In der oberen Zahnreihe fehlten zwei Zähne, was ihr das Aussehen einer reichen, aber ordinären Bürgerlichen verlieh. Und eine Bürgerliche war sie tatsächlich, wie Sano wusste.
Keisho-in war die Tochter eines Gemüsehändlers aus Kyôto. Nachdem ihr Vater gestorben war, wurde ihre Mutter die Dienerin und Geliebte eines Kochs am Hof des kaiserlichen Prinzregenten, wo Keisho-in sich mit der Tochter einer vornehmen Familie aus Kyôto anfreundete. Sie begleitete die junge Frau in den Palast zu Edo, wo Shôgun Tokugawa Iemitsu sie zu einer seiner Konkubinen machte. Bald darauf zählte auch Keisho-in zu den Konkubinen des Shôguns. Im Alter von 20 Jahren hatte sie Iemitsus Sohn Tsunayoshi geboren und sich selbst den höchsten Rang gesichert, den eine Frau erwerben konnte: den der offiziellen Gattin eines Shôguns und Mutter seines Erben. Seitdem hatte Keisho-in ein Leben in Reichtum und Überfluss geführt und war die Herrin der Frauengemächer.
»Mein ehrenwerter Sohn, der Shôgun, hat mir sehr viel von Euren Abenteuern erzählt«, sagte die Fürstin. »Ich bin entzückt, Eure Bekanntschaft zu machen.« Sie wandte den Blick von ihren Besuchern, schlug die Augen nieder und stellte jene gespielte Schüchternheit zur Schau, mit der sie einst den Vater von Tokugawa Tsunayoshi umgarnt haben musste. Dann seufzte sie tief. »Ach, welch trauriger Anlass führt Euch hierher – der Tod von Konkubine Harume. Es ist eine Tragödie! Nun fürchten alle Frauen um ihr Leben, auch ich!«
Doch es war offensichtlich, dass Keisho-in nicht zu den Menschen zählte, die lange trauerten. Sie schenkte Sano ein kokettes Lächeln und sagte: »Aber jetzt, da Ihr hier seid, um uns Frauen zu beschützen, fühle ich mich schon viel besser. Euer Gefolgsmann hat der Hofdame Chizuru bereits gesagt, dass Ihr alles unternehmen werdet, um die Ausbreitung einer Seuche zu verhindern. Sagt uns Frauen einfach, was wir tun sollen. Wir werden Euren Wünschen mit Freuden nachkommen.«
»Konkubine Harume ist nicht an einer Krankheit gestorben; also besteht auch keine Gefahr, dass sich eine Seuche ausbreitet«, erklärte Sano, der erleichtert war, dass die Mutter des Shôguns sich so hilfsbereit zeigte. Mit ihrem Rang und Einfluss konnte sie ihm bei seinen Nachforschungen Steine in den Weg legen, wann immer sie
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