Das Geheimnis
wollte – und alle Bewohner des Inneren Schlosses waren Verdächtige in diesem brisanten Mordfall, auch Fürstin Keisho-in.
Was die Gefühle von Hofdame Chizuru betraf, war Sano nicht sicher. Die Miene der otoshiyori blieb unbeteiligt, doch ihre steife Körperhaltung ließ auf inneren Widerstand schließen.
»Konkubine Harume wurde ermordet«, fuhr Sano fort. »Vergiftet.«
Einen Augenblick lang starrten beide Frauen ihn an; keine sagte ein Wort. Sano entdeckte einen Anflug undeutbarer Gefühle in den Augen von Hofdame Chizuru; dann wandte sie den Blick von ihm ab.
» Gift?«, stieß Fürstin Keisho-in hervor. »Das ist ja entsetzlich!« Augen und Mund weit aufgerissen, ließ sie sich rücklings auf die Kissen fallen und begann heftig zu keuchen. »Ich … bekomme keine Luft mehr! Ich kann nicht mehr atmen!« Hofdame Chizuru wollte ihrer Herrin zu Hilfe eilen, doch Keisho-in scheuchte sie mit einer Handbewegung davon und winkte Hirata. »Helft Ihr mir, junger Mann!«
Hirata warf Sano einen unbehaglichen Blick zu; dann sprang er auf und eilte zur Fürstin, nahm ihren Fächer und wedelte ihr Luft zu. Bald beruhigte sich ihr Atem wieder, und ihr Körper entspannte sich. Als Hirata ihr half, sich aufzusetzen, lehnte sie sich einen Augenblick lang an ihn und lächelte ihn an. »So stark, gut aussehend und hilfsbereit. Arigatô. «
» Dô itashimashite«, murmelte Hirata und beeilte sich, an seinen Platz neben Sano zurückzukehren. Mit einem leisen Seufzer der Erleichterung ließ er sich wieder nieder.
Sorgenvoll betrachtete Sano seinen Gefolgsmann. Für gewöhnlich ging Hirata gelassen und selbstsicher mit Zeugen beiderlei Geschlechts um, ungeachtet ihres gesellschaftlichen Ranges; nun aber kniete er mit hängendem Kopf und herabgesunkenen Schultern da. Was war mit ihm los? Doch dafür war jetzt keine Zeit. Erst einmal wandte Sano sich wieder den Frauen zu, um deren Reaktion zu studieren. War die Nachricht vom Giftmord wirklich eine Neuigkeit für sie? Die Beinahe-Ohnmacht von Keisho-in jedenfalls schien nicht gespielt gewesen zu sein, doch Sano fragte sich, ob Hofdame Chizuru von dem Mord gewusst oder zumindest dahingehende Vermutungen gehabt hatte.
»Wer hätte ein Interesse daran haben können, die arme Harume zu ermorden?«, fragte Keisho-in mit weinerlicher Stimme. Sie paffte an ihrer Pfeife, während ihr eine Träne über die Wange lief und eine Spur in die dicke weiße Schminke grub. »So ein liebes Kind. So freundlich und voller Leben.« Keisho-in seufzte tief; dann kehrte mit einem Mal ihr kokettes Gehabe wieder. Mit einem verschämten Lächeln blickte sie Hirata an. »Als Mädchen war ich Harume sehr ähnlich. Auch ich war einst eine große Schönheit und bei allen beliebt.«
Sie seufzte. »Bei Harume war es genauso. Alle hatten sie gern. Sie konnte wunderschön singen und Samisen spielen. Und ihre Scherze brachten uns alle zum Lachen. Deshalb hatte ich sie zu einer meiner Zofen gemacht. Harume wusste, wie man Menschen glücklich macht. Ich habe sie bewundert und geliebt wie eine Tochter.«
Sano betrachtete Hofdame Chizuru. Die otoshiyori presste die Lippen zusammen. Es war nicht zu übersehen, dass sie Keisho-ins Ansichten nicht teilte, was das ermordete Mädchen betraf. »Wie war Euer Verhältnis zu Konkubine Harume?«, fragte Sano die Hofdame. »Was für ein Mensch war sie in Euren Augen?«
»Es steht mir nicht zu, mir persönliche Meinungen über die Konkubinen des Fürsten zu bilden«, antwortete Hofdame Chizuru züchtig.
Sano spürte, dass Chizuru ihm sehr viel über Konkubine Harume hätte erzählen können, doch sie wollte ihrer Herrin, der Mutter des Shôguns, nicht widersprechen. »Hatte Konkubine Harume Feinde im Palast, die ihren Tod gewünscht haben könnten?«, erkundigte er sich an beide Frauen gewandt.
»Gewiss nicht«, antwortete Keisho-in und blies eine Rauchwolke aus, als wolle sie auf diese Weise ihre Worte unterstreichen. »Jeder hat sie geliebt. Und hier im Inneren Schloss stehen wir uns alle sehr nahe. Wir sind wie Schwestern.«
Doch auch unter Schwestern gab es Streitigkeiten, wie Sano sehr wohl wusste. Im Inneren Schloss hatten in der Vergangenheit schon mehrere Auseinandersetzungen mit einem Mord geendet. Keisho-in musste sehr dumm sein, falls sie tatsächlich glaubte, dass 500 Frauen, auf so engem Raum zusammengepfercht, in vollkommener Harmonie zusammenlebten – oder die Fürstin log.
Hofdame Chizuru räusperte sich und sagte zögernd: »Einmal gab es einen Streit
Weitere Kostenlose Bücher