Das Geheimnis
übrigens für richtig hält. Aber ich möchte arbeiten! Ich will mich nützlich machen. Und ich kann dir helfen!«
»Und wie?«, fragte Sano, der immer verwirrter und ärgerlicher wurde, während sein Traum vom ehelichen Glück sich mehr und mehr verflüchtigte. Wer war dieses seltsame und starrsinnige Mädchen, das er geheiratet hatte? »Wie willst du mir denn helfen?«
»Ich hatte eine sehr gute Ausbildung und kann besser lesen und schreiben als die meisten Männer. Und zehn Jahre lang habe ich mir die Gerichtsverhandlungen meines Vaters angeschaut.« Reikos zierliches Kinn zitterte, doch sie gab sich noch längst nicht geschlagen. »Ich kenne das Gesetz und verstehe etwas von Verbrechern und ihren Beweggründen. Deshalb kann ich dir helfen, Harumes Mörder zu finden.«
Da Reiko in der Villa des Magistrats Ueda aufgewachsen war, musste sie in der Tat mehr Verbrecher gesehen haben als Sano. Ihm missfiel der Gedanke, von seiner jungen Frau übertrumpft zu werden, und er hasste die Vorstellung, wie viel Gewalt und Verderbtheit sie gesehen haben musste. Und noch mehr hasste Sano die Vorstellung, dass irgendetwas von den menschlichen Abgründen, mit denen er es in seinem Beruf zu tun hatte, in sein Privatleben, ja seine Ehe einfließen könnte. Wie sollte sein Zuhause ein friedlicher Hafen der Ruhe sein, wenn Reiko sein Wissen teilte, was die Verderbtheit der Welt betraf?
»Bitte … beruhige dich, und lass mich erklären«, sagte er und hob beschwichtigend die Hand. »Ermittlungen sind gefährlich. Du könntest dabei verletzt, ja sogar getötet werden.« Bei seinen Nachforschungen als oberster Ermittler des Shôguns hatte Sano viele Menschen – zu viele – sterben sehen. Beim bloßen Gedanken, dass die eigene Frau bei seiner Suche nach Recht und Gerechtigkeit ihr Leben lassen könnte, schrie Sanos Beschützerinstinkt protestierend auf. Er wandte sich wieder dem Essen zu und erklärte mit endgültigem Unterton: »Es wäre falsch von mir, würde ich dir erlauben, dich auf irgendeine Weise an den Nachforschungen zu beteiligen.«
»Du hältst mich für schwach und dumm, nur weil ich eine Frau bin«, beharrte Reiko. »Aber ich kann kämpfen! Ich kann mich selbst verteidigen!« Leidenschaft blitzte in ihren schönen dunklen Augen auf. »Und weil ich eine Frau bin, komme ich an Orte, die dir versperrt bleiben. Ich kann mit Leuten sprechen, die nie ein Wort mit dir reden würden, und ich kann Dinge erfahren, die dir verborgen bleiben. Gib mir eine Chance, dann wirst du schon sehen!«
Zorn keimte in Sano auf. Er musste an seine brave, fügsame Mutter denken, die dem Vater stets dessen Leibgerichte zubereitet und die den Haushalt auf eine Art und Weise geführt hatte, dass sie stets die Bedürfnisse ihres Mannes erfüllt hatte, ohne jemals etwas für sich selbst zu verlangen. In der Welt eines Samurai, für den die unverbrüchliche Treue zum Regime der Tokugawas an erster Stelle stand, war das Zuhause der einzige Lebensbereich, in dem er die uneingeschränkte Herrschaft ausübte. Und nun fühlte Sano, wie ihm diese kostbare Macht entglitt, wie seine männliche Autorität angesichts Reikos Herausforderung geschwächt wurde. Wenngleich er am Vorabend der Hochzeitsnacht um jeden Preis einen Streit hatte vermeiden wollen, verlor er für einen Moment die Beherrschung.
»Wie kannst du es wagen, deinem Mann zu widersprechen!«, stieß er hervor und warf die Essstäbchen auf das Tablett. »Woher nimmst du die Dreistigkeit, auch nur die Andeutung zu machen, dass ein dummes und starrsinniges Weib wie du irgendetwas besser könnte als ich!«
»Weil ich Recht habe!«
Reiko sprang auf. In ihren Augen funkelte ein Zorn, der dem Sanos in nichts nachstand. Sie fuhr sich mit der Zunge über den abgebrochenen Schneidezahn, und ihre Hand zuckte zur Hüfte, als wolle sie nach einem Schwert greifen. Diese unweibliche, angriffslustige Reaktion entflammte Sanos Zorn noch mehr und entfachte zugleich wilde Begierde in ihm. Die Wut verwandelte Reikos zarte Schönheit in die wilde, zerstörerische weibliche Macht einer Göttin. Auch sie war erregt, wie ihr rasches Atmen und die geröteten Wangen verrieten. So sehr Sano ihre Unverschämtheit auch missfiel, er bewunderte ihren Mut und ihren Kampfgeist. Dennoch glaubte er nicht, dass Reiko die Fähigkeiten besaß, sich an den Ermittlungen in einem Mordfall zu beteiligen – ganz zu schweigen davon, dass sie durch ihren Widerspruch seine männliche Autorität untergrub. Er stieß das Tablett zur
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