Das Geheimnis
Streits war Reiko seine Frau. Er wollte sie. Es war sein Recht, ihr zu befehlen, die Nacht mit ihm im Ehebett zu verbringen. Sano packte den Türgriff …
… und ließ ihn wieder los. Er schüttelte den Kopf, als die Vernunft siegte und seine aus Zorn geborene Begierde verebbte. Er wollte Reiko nicht mit körperlicher Gewalt dazu zwingen, sich ihm zu unterwerfen. Er wollte keine eingeschüchterte Gemahlin, die ihm nur deshalb gehorchte, weil sie sich vor ihm fürchtete oder weil die gesellschaftlichen Regeln es so vorschrieben. Er sehnte sich noch immer nach einer Beziehung, die sich auf beiderseitiges Verstehen und wahre gegenseitige Liebe gründete. Es war ein langer und harter Tag für ihn gewesen – für Reiko gewiss nicht weniger als für ihn – und es war ein unglücklicher Beginn ihrer Ehe. Aber morgen würde alles schon wieder anders aussehen. Morgen, nach einer ruhigen Nacht, würden sie noch einmal von vorn anfangen. Sano nahm sich vor, Reiko jede nur erdenkliche Freundlichkeit zukommen zu lassen. Dann würde sie schon einsehen, dass ihr Platz zu Hause war, in ihrer beider Villa, und nicht draußen in einer gefährlichen Welt bei den Ermittlungen in einem Mordfall. Und sie würde ihn als ihren Herrn und Gemahl lieben lernen.
Sano ging in sein Schlafgemach, fand aber nicht die erhoffte Ruhe. Immer wieder musste er an den Streit mit Reiko denken und daran, was er hätte sagen sollen. Unruhig wälzte er sich hin und her. Sein Blick fiel auf seine zerwühlten Sachen, die er achtlos zu Boden geworfen hatte. Zwischen den Falten seines Kimonos bemerkte er das Tagebuch, das er im Gemach von Konkubine Harume entdeckt und eingesteckt hatte. Seufzend streckte er den Arm aus und nahm es an sich. Vielleicht würde es ihn ein wenig von seinem häuslichen Ärger ablenken, wenn er sich mit dem Tagebuch beschäftigte. Außerdem könnte es für die Nachforschungen von Nutzen sein, sich die Aufzeichnungen der Konkubine anzuschauen und Näheres über ihre Beobachtungen und Gedanken zu erfahren. Sano legte sich auf den Futon, zog sich eine Lampe heran, stützte sich auf einen Ellbogen, schlug den malvenfarbenen, mit grünen Kleeblättern bedruckten Stoffeinband auf und wandte sich der ersten Seite zu.
Der Text war von unbeholfener Hand geschrieben; viele Fehler waren durchgestrichen und verbessert worden. Wie viele Frauen war Konkubine Harume kaum des Lesens und Schreibens kundig gewesen. Und das ist wahrscheinlich gut so, sinnierte Sano, als er daran dachte, wie sehr Reikos ausgezeichnete Bildung ihren Hang zur Aufsässigkeit und zum Eigensinn gefördert hatte. Doch als Sano zu lesen begann, wurde deutlich, dass Harume eine Begabung für anschauliche Schilderungen besessen hatte:
Ich betrete das Innere Schloss. Die Wächter führen mich durch die Gänge wie eine Gefangene zu ihrer Zelle. Hunderte von Frauen stehen da und schauen mich an. Ihr Geschnatter verstummt, wenn ich an ihnen vorübergehe, und sie beobachten und mustern mich, schätzen mich ab. Wie viel Verachtung in ihren Blicken liegt! Sie starren und starren – gierige Tiere in ihren Käfigen, die sich fragen, ob sie durch die Ankunft der Neuen weniger zu fressen bekommen werden. Doch ich halte den Kopf hoch erhoben. Ich mag arm sein, aber ich bin hübscher als jede andere Frau, die ich hier sehe. Eines Tages werde ich die Lieblingskonkubine des Shôguns sein. Dann wird mir niemand mehr verächtliche Blicke zuwerfen.
Keiner der Einträge war mit einem Datum versehen, doch diese erste Notiz musste Harume vor etwa acht Monaten geschrieben haben, kurz nach Neujahr, als sie in den Palast von Edo gekommen war. Sano überflog die Eintragungen, in denen von Alltäglichkeiten im Inneren Schloss die Rede war, von Eifersüchteleien und Streitigkeiten und von Harumes zunehmend häufigeren Besuchen im Schlafgemach des Shôguns.
Im Inneren Schloss herrscht eine so drangvolle Enge, dass wir in Schichten essen und baden müssen. Bei jeder Bew egung stoße ich mit irgendjemandem zusammen; stets ist die Toilette belegt, wenn ich ein menschliches Bedürfnis befriedigen muss, sodass mir der Gestank meiner Vorgängerinnen in die Nase steigt, und nie ist man ungestört und für sich allein. Jedes Mal, wenn ich mit dem Bad an der Reihe bin, ist das Wasser trüb und schmutzig, und niemals endet der Lärm, nicht einmal in der Nacht, weil immer irgendjemand spricht oder schnarcht, hustet oder weint. Doch so sehr ich mich nach Ruhe und Ungestörtheit sehne, so sterbe ich doch auch
Weitere Kostenlose Bücher