Das Geheimnis
allmählich an Einsamkeit. Die anderen Frauen behandeln mich wie eine Außenseiterin, und ich mag keine einzige von ihnen. Und niemals gibt es eine Abwechslung; stets tut man das Gleiche, ein Tag ist wie der andere, und wir kommen viel zu selten aus dem Inneren Schloss heraus.
Gestern war es sehr heiß und schwül, und der Donner grollte wie das Brüllen eines zornigen Drachens. Wir haben einen Ausflug in die Hügel gemacht, haben im Freien gespeist und getrunken. Ich trug meinen grünen Kimono, der mit dem Muster aus Weidenblättern bedruckt ist. Wir haben Sake getrunken und waren sehr fröhlich, bis es ganz plötzlich wie aus Kübeln zu regnen begann! Wir kreischten und haben uns eilig in die Sänften zurückgezogen, während Diener die Speisen und das Geschirr zusammenräumten. Was für einen Spaß ich hatte, als die hochnäsigen älteren Konkubinen pitschnass wurden und wie aufgeregte Hühner gackerten – besonders, nachdem sie über meine ungeschliffenen Manieren gespottet hatten.
Gestern Abend war ich dem Shôgun wieder zu Diensten. Ich trug meinen roten Seidenkimono, der mit Glückssymbolen bedruckt ist, auf dass ich ihm vielleicht einen Sohn schenke und für den Rest meines Lebens reich und glücklich sein kann, wie Fürstin Keisho-in.
Wie Sano erwartet hatte, ähnelte Harumes Tagebuch denen der Damen am Kaiserhof vor Hunderten von Jahren; auch diese Frauen hatte eher über Belanglosigkeiten als über wichtige historische Ereignisse berichtet. Auch Harume schrieb nicht ein Wort über politische Entscheidungen oder die Nächte mit dem Shôgun, und es gab auch gute Gründe dafür: Selbst unerfahrene junge Frauen wussten, dass jede unbedachte Bemerkung eine strenge Zensur und drastische Strafen zur Folge haben konnte, von der Verbannung aus dem Palast bis hin zur Todesstrafe. Außerdem musste Harume befürchten, ihre geschwätzigen Kolleginnen könnten ihr Tagebuch lesen und sich für die abfälligen Schilderungen rächen. So tauchten Konkubine Ichiteru und Leutnant Kushida lediglich in der Mitte einer langen Liste auf, die mit »Dinge, die mir am Leben im Palast zu Edo missfallen« überschrieben war:
39. Dass für mich immer nur der halb verbrannte und hart gebackene Reis übrig bleibt, der sich am Boden des Topfes befindet, weil die Konkubinen, die schon längere Zeit im Palast sind, das beste Essen bekommen.
40. Konkubine Ichiteru, die sich für etwas Besseres hält als alle anderen Frauen, nur weil sie die Cousi ne des Kaisers ist.
41. Die ärztlichen Untersuchungen jeden Monat, und die kalten Hände von Dr. Kitano an meinen intimsten Körperstellen.
42. Leutnant Kushida – eine schreckliche Plage.
In den nachfolgen den Abschnitten gab es keinen Hinweis auf irgendeine Feindschaft oder einen Streit, der zum Mord an Harume hätte führen können. Sano wurde schläfrig. Er blätterte die letzte Seite um.
Gestern haben wir eine Pilgerreise zum Tempel der Kannon gemacht. Ich liebe das Stadtviertel Asakusa, weil die Straßen derart belebt sind, dass die Wächter und Palastbeamten uns dort nicht so schrecklich genau im Auge behalten können. Wir können ihnen manchmal entkommen und allein über den Marktplatz schlendern, können uns an den Ständen Leckerbissen und Andenken kaufen, können uns die Zukunft lesen lassen, können uns die Pilger, Priester, Kinder und die heiligen Tauben anschauen: Freiheit!
Ich eile durch enge Gassen bis zum Gasthof. Wie immer ist dort bereits ein Zimmer für mich bestellt. Ich schlüpfe zwischen den Fichten und dem Bambus hindurch, die den Gasthof wie ein kleiner Wall aus Pflanzen umgeben. Mein Zimmer liegt im hinteren Gebäude – sehr abgeschieden. Ich gehe hinein, schließe die Tür und warte. Bald höre ich knirschende Schritte auf dem Kiespfad draußen. Sie verstummen draußen vor meinem Zimmer …
Sanos Müdigkeit war wie weggeblasen; er war hellwach und gespannt darauf, was nun folgte. Konkubine Harume hatte die Stunden der Freiheit offenbar für geheime Schäferstündchen genutzt.
… ich sehe seinen hoch gewachsenen, dünnen Schatten vor dem Papierfenster, in dem ein Loch ist, durch das er späht und mich betrachtet. Aber er sagt nichts, und auch ich schweige. Ich tue so, als wäre ich allein, und streife langsam den Umhang ab, binde die Schärpe los und lasse den Kimono und mein Unterkleid auf den Boden rutschen. Dann drehe ich mich zum Fenster um, damit er mich anschauen kann, wobei ich selbst seinem Blick ausweiche. Sein Schatten bewegt sich. Nackt
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