Das Geheimnis
nach Schweiß und Haaröl lag schwer in der Luft. Doch die Zahl der Schüler war von gut einem Dutzend auf mehr als 300 gestiegen, und die Zahl der Lehrer von einem auf 20.
»Sano-san! Seid gegrüßt!« Aoki Koemon kam durch die Halle geeilt, Sanos Spielgefährte aus Kindertagen. Er war der Meisterschüler von Sanos Vater gewesen und nun der Besitzer und oberster sensei der Akademie. Er verbeugte sich; dann rief er den Schülern wie auf dem Exerzierplatz zu: »Achtung! Unser Herr ist gekommen!«
Die Schüler hielten in ihren Übungen inne. In vollkommener Stille verbeugten sich alle vor Sano, den diese Geste mit Verlegenheit und Dankbarkeit zugleich erfüllte. Sein Ruf hatte erheblich zum neuen Ansehen und wieder erwachenden Erfolg der Akademie beigetragen, an der wenige Jahre zuvor nur rônin – herrenlose Samurai – und niederrangige Gefolgsmänner unbedeutender Adelsfamilien studiert hatten. Nun wurde die Akademie von Vasallen der Tokugawa und von Samurai aus den vornehmen daimyo- Klans besucht in der Hoffnung, den sôsakan dadurch auf sich aufmerksam zu m achen, aber auch, um dessen viel gerühmte Kampftechniken zu erlernen, denn manchmal, wenn seine Zeit es erlaubte, unterrichtete Sano selbst.
»Macht weiter«, befahl er nun, von einem Gefühl der Trauer erfüllt, weil sein Rang ihn so hoch über diesen Ort seiner Kindheit erhoben hatte. Andererseits war er glücklich, den Geist seines toten Vaters zu ehren, indem er dessen Akademie zu solchen Höhen geführt hatte.
Die Kampfgeräusche setzten wieder ein. Koemon, ein stämmiger Mann mit freundlichem rundem Gesicht, erkundigte sich: »Was führt Euch zu uns, Sanosan?«
»Ich suche Kushida Matsutatsu.«
Koemon wies in den hinteren Teil der Halle, wo ei ne Gruppe Schüler von einem kleinen, mageren Samurai im naginatajutsu unterrichtet wurde, der Kunst des Speerkampfes. Seine Übungswaffe aus Bambus besaß eine schmale, gekrümmte Spitze aus Holz, die zum Schutz mit Baumwolle umwickelt war. »Das ist Kushida«, sagte Koemon. »Er ist einer unserer besten Schüler, den wir häufig auch als Hilfslehrer einsetzen.«
Während Sano in den hinteren Teil der Halle ging, um besser beobachten zu können, demonstrierte Leutnant Kushida seinen Schülern, wie man den Speer als Schlagwaffe benutzte. Sano schätzte Kushida, der schlichte weiße Übungskleidung trug, auf ungefähr 35 Jahre. Sein Gesicht war klein und faltig wie das eines Affen; unter der niedrigen Stirn funkelten stechende Augen. Sein kräftiger, vorstehender Kiefer, die langen Arme und der lange, dünne Torso sowie die kurzen Beine unterstrichen sein äffisches Erscheinungsbild. Für eine schöne junge Frau wie Harume wäre er wahrhaftig kein passender Freier gewesen.
Kushida befahl seinen zwölf Schülern, in zwei Reihen Aufstellung zu nehmen. Dann kauerte er sich zu Boden, den Speer in beiden Händen, und rief unvermittelt: »Angriff!«
Mit markerschütternden Schreien stürmten die Schüler auf ihn los, wobei sie die Speere stoßbereit vor sich hielten. Die naginata, der Kampfspeer, war ursprünglich von Kriegermönchen benutzt worden, bis vor etwa 500 Jahren Samuraiklans wie die Minamoto diese Waffe übernommen hatten. In den japanischen Bürgerkriegen hatten die Speerschwinger ganze Armeen zerschlagen, und bis ein Gesetz der Tokugawas bewaffnete Zweikämpfe untersagte – von Ausnahmen abgesehen –, waren ganze Horden berufsmäßiger Speerkämpfer durch das Land gezogen, um bei berühmten Meistern zu üben und Rivalen herauszufordern. Als Leutnant Kushida nun blitzartig auf den Angriff seiner Schüler reagierte, erwachten in Sano wieder die Achtung vor der schrecklichen Macht der naginata und der Respekt vor dem Mann, der diese Waffe so meisterhaft einzusetzen verstand.
Schwindelerregend schnell wirbelte Kushida im Kreis herum, wie in einem rasenden Tanz, inmitten seiner zwölf Angreifer, wobei sein Speer zischend durch die Luft flirrte. Er benutzte jeden Teil der Waffe, indem er mit dem stumpfen Ende den Angreifern in die Mägen und vor die Brust stieß, mit dem Schaft Schläge parierte und mit der wattierten Klinge zustach: Angriffe, die den Gegnern die Knochen gebrochen oder ihnen den Leib aufgeschlitzt hätten. Während um Kushida herum die Körper seiner Angreifer immer wieder zu Boden stürzten, schien eine Wandlung mit dem Leutnant vor sich zu gehen: Sein äffisches Gesicht wurde straffer und nahm einen Ausdruck zorniger, wilder Entschlossenheit an. Die Schüler schrien vor Schmerz auf,
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