Das Geheimnis
ich kenne ihn schon, so lange ich denken kann.«
»Dann solltest du die Vernehmung von Konkubine Ichiteru übernehmen«, sagte Sano, »damit deine Nachforschungen nicht durch einen Mangel an Unvoreingenommenheit beeinflusst werden.«
Nach einem kurzen Augenblick des Zögerns nickte Hirata.
»Ist alles in Ordnung?«, fragte Sano.
»Ja, sicher«, erwiderte Hirata rasch. »Ich mache mich sofort auf den Weg zu Konkubine Ichiteru.«
Sano verwarf seine Bedenken. Hirata hatte ihn noch nie im Stich gelassen. »Eine von Ichiterus Dienerinnen heißt Midori«, sagte Sano. »Ich kenne sie von meinem ersten Mordfall.«
Midori, eine Tochter des Fürsten Niu aus der Provinz Satsuma, hatte Sano damals geholfen, den Mörder ihrer Schwester zu finden – was ihr die Verbannung in ein fernes Nonnenkloster eingebracht hatte. Sano hatte seinen Einfluss geltend gemacht, um das Mädchen zurück nach Edo zu holen, und ihr eine Anstellung als Hofdame im Palast des Shôguns verschafft – eine begehrte Stellung für ein Mädchen aus vornehmer Familie. Er hatte Midori seither nicht mehr gesehen, doch sie hatte ihm in einem Brief geschrieben, sie würde sich gern für seine Freundlichkeit erkenntlich zeigen.
Nachdem er Hirata die Geschichte erzählt hatte, wies Sano seinen Gefolgsmann an: »Sorg dafür, dass du mit Midori sprechen kannst, und sag ihr, dass du für mich arbeitest. Vielleicht kann sie dir brauchbare Auskünfte darüber geben, wie es im Inneren Schloss zugeht.«
Dann trennten sie sich. Während Hirata sich auf den Weg zu den Frauengemächern im Inneren Palast begab, um mit Ichiteru und Midori zu sprechen, machte Sano sich auf die Suche nach Leutnant Kushida, jenen Palastwächter, der Konkubine Harume gedroht hatte, sie zu ermorden.
9.
S
ano ritt durch die schmalen Straßen des Händlerviertels Nihonbashi, an den Häusern gemeiner Bürger und den offenen Eingängen von Läden vorbei, in denen Sake, Öl, Töpferware, Sojasoße und andere Erzeugnisse verkauft wurden. Händler feilschten mit Kunden, und in den Gassen, durch die Soldaten patrouillierten, drängten sich Handwerker und Arbeiter, Hausmädchen und Diener. Sano passierte eine Brücke, die über einen Kanal führte, dessen Ufer von Weiden gesäumt waren. Er gelangte zu einem Gemüseladen, dem Geschäft eines Schreibwarenhändlers und mehreren Essständen. Fußgänger riefen ihm freundliche Grüße zu, denn Sano war hier bekannt – nicht ganz zufällig hatte seine Suche nach Leutnant Kushida ihn in die Gegend geführt, in der er aufgewachsen war.
Als Sano sich bei dem Befehlshaber der Palastwachen erkundigt hatte, wo er Kushida finden könne, hatte dieser geantwortet: »Leutnant Kushida wurde wieder in Dienst genommen, kommt aber erst morgen zurück in den Palast. Soviel ich weiß, hat er sich meist in der Sano-Akademie für Waffenkunst aufgehalten, seit er vom Dienst entbunden wurde.«
Die Akademie war von Sanos verstorbenem Vater gegründet worden. Sano selbst war dort eine Zeit lang als Ausbilder tätig gewesen und hatte die Akademie ursprünglich übernehmen wollen, wenn sein Vater in den Ruhestand ging. Doch als Sano der Polizeitruppe Edos beigetreten war, hatte sein Vater die Leitung der Akademie einem seiner Schüler übertragen. Dennoch war Sanos Liebe zu dieser Schule geblieben, an der er selbst die Kunst des Schwertkampfs erlernt hatte. Sanos Mutter, die sich stets geweigert hatte, in den Palast von Edo überzusiedeln, wohnte noch immer in einem Häuschen hinter dem Gebäude der Akademie. Nach seiner Ernennung zum sôsakan-sama hatte Sano eine beträchtliche Summe in den Ausbau und die Erneue rung des Gebäudes gesteckt. Als er nun vor der Akademie vom Pferd stieg, ließ er den Blick über die lange, niedrige Halle schweifen und betrachtete stolz das Ergebnis.
Das einst durchhängende, an vielen Stellen undichte Ziegeldach war renoviert worden, und die Fassade erstrahlte in neuem weißem Verputz. Über dem Eingang war ein neues, größeres Schild mit dem Namen der Akademie angebracht worden. Außerdem hatte man das Gebäude so weit verlängert, dass es nun zu beiden Seiten mit den angrenzenden Häusern abschloss. Sano betrat die Akademie. Drinnen hatten in weiße Baumwoll-Kimonos gekleidete Samurai sich in Reihen aufgestellt und schwangen hölzerne Übungsschwerter, Schlagstöcke und Speere in nachgestellten Kämpfen. Rufe und Stampfen rollten wie Donner durch die Halle – das vertraute Hintergrundgeräusch aus Sanos Kindheit. Der altgewohnte Geruch
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