Das Geheimnis
nötig, auf indirektem Weg. Vielleicht führte die Fährte zu den Miyagis, wenn Hirata erst den Drogenhändler ausfindig gemacht hatte. Außerdem hatte die Geschichte um die Affäre zwischen dem Fürsten und der Konkubine noch eine andere Seite: die von Harume. Nachforschungen über ihr Leben konnten Antworten zutage fördern, die den drohenden Schatten des Versagens und des Todes vertrieben, der über Sano schwebte. Nun aber richtete Sano seine Gedanken erst einmal auf Reiko und sein Zuhause.
Er stieg aufs Pferd und ritt die Prachtstraße hinauf, die aus dem Wohnviertel der daimyo führte, vor deren Anwesen Laternen an den bewachten Toren brannten. Am Abendhimmel über dem Palast stieg der Mond auf; sein silbernes Licht fiel auch auf die Villen im Beamtenviertel des Palasts, wo Reiko auf ihren Mann wartete. Der Gedanke an Reikos Schönheit und ihre jugendliche Unschuld erschien Sano wie eine reinigende Kraft, die ihn von dem Schmutz befreite, den seine Begegnung mit den Miyagis hinterlassen hatte. Vielleicht konnten er und Reiko heute Abend den Streit des gestrigen Tages begraben und ihre Ehe von neuem beginnen.
15.
D
as Jaulen der Hunde hallte klagend durch die Straßen und Gassen Edos, als würden 1000 Bestien den Beginn jener Stunde verkünden, die diesen Namen trug. Die Nacht tauchte die Stadt in winterliche Dunkelheit, ließ Lichter verlöschen und Straßen menschenleer werden. Das Mondlicht verwandelte den Fluss Sumida in ein Band aus geschmolzenem Silber. Am Ende einer Anlegestelle weit stromaufwärts und fern der Stadt erhob sich ein Pavillon. Laternen hingen von den nach oben geneigten Vorsprüngen des Ziegeldaches und beleuchteten Flaggen, die das Wappen der Tokugawa trugen und Wände, die mit geschnitzten Drachen aus vergoldeter Lackarbeit verziert waren. Im Wasser spiegelte sich das glitzernde, auf den Kopf gestellte Bild des bunten Pavillons. Am Pier standen Soldaten auf Posten, und ein kleines Wachboot fuhr am bewaldeten Ufer Streife, um für die Sicherheit und Ungestörtheit der einen Person zu sorgen, die sich in dem Pavillon aufhielt.
Im Inneren saß Kammerherr Yanagisawa auf dem mit Tatami-Matten ausgelegten Fußboden. Im flackernden Licht von Öllampen studierte er amtliche Dokumente. Die Reste seines Abendessens lagen auf einem Tablett, das neben ihm stand; von einem Holzkohleofen stieg Rauch auf und trieb durch die Schlitze in den Lattenfenstern nach draußen. Der Pavillon war Yanagisawas bevorzugter Ort für Geheimtreffen, denn er war fern vom Palast zu Edo und allen ungebetenen Lauschern. An diesem Abend hatte der Kammerherr sich die Berichte von metsuke- Spitzeln angehört, die kürzlich aus den Provinzen nach Edo zurückgekehrt waren. Nun stand Yanagisawa sein letztes Treffen bevor, bei dem es um die wichtigste Angelegenheit überhaupt ging: um seinen Plan zur Vernichtung von sôsakan Sano.
Auf der Anlegestelle waren Schritte und Stimmen zu hören. Yanagisawa warf die Dokumente auf eine mit Kissen gepolsterte Sitzbank und stand auf. Als er aus einem der Fenster spähte, sah er einen Wachsoldaten, der eine kleine Gestalt über die Anlegestelle zum Pavillon führte. Yanagisawa lächelte, als er Shichisaburô erkannte, der in bunte Theaterumhänge aus Seidenbrokat gekleidet war. Freudige Erregung ließ das Herz des Kammerherrn schneller schlagen. Er stieß die Tür auf, und ein Schwall kalter Luft wehte ins Innere des Pavillons.
Shichisaburô kam den Pier hinauf und näherte sich der Tür. Er bewegte sich mit graziler Anmut, als würde er bei einem no- Theaterstück die Bühne betreten. Als er seinen Herrn und Meister sah, erstrahlten seine Au gen in perfekt gespieltem Entzücken. Er verbeugte sich und deklamierte in klangvollem Sprechgesang:
» Tanzen will ich
Den Tanz des Mondes,
Meine Ärmel sind Wolken,
Die über den Himmel ziehen,
Tanzen will ich,
Von meiner Freude singen,
Wieder und wieder,
In der Nacht. «
Es war eine Textstelle aus dem Stück Kantan, das der große Zeami Motokiyo geschrieben hatte und das von einem chinesischen Bauern handelte, der davon träumte, den Kaiserthron zu besteigen. Yanagisawa und Shichisaburô erfreuten sich oft daran, gemeinsam Abschnitte aus bekannten Stücken zu zitieren, und so trug der Kammerherr nun die nächsten Zeilen vor:
» Wenn die Nacht sich auch dehnt,
So muss sie doch der Sonne weichen,
Noch glauben wir, das Dunkel herrscht
Doch der Tag ist schon erwacht. «
Heiße Begierde durchströmte Yanagisawa. Dieser Junge war ein
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