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Das Geheimnis

Das Geheimnis

Titel: Das Geheimnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Joh Rowland
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Yanagisawas Hand und drückte sie auf die Wunden, die seine Brust verunstalteten. Sein Haut fühlte sich heiß und fiebrig an. »Mit meinem Blut schwöre ich, Euch ewig zu lieben, Herr«, flüsterte er.
    In seinen Augen funkelte wilde Leidenschaft, die aufrichtig und nicht gespielt war. Das Lachen blieb Yanagisawa in der Kehle stecken. Verdutzt fragte er: »Du meinst es ehrlich, nicht wahr?« Tief in seinem Inneren erzitterte irgendetwas wie die Erde bei einem Beben. »Was du über die Gefühle gesagt hast, die du für mich hegst … Das stimmt alles. Du schauspielerst nicht. Du meinst alles so, wie du es sagst!«
    Der Junge nickte. »Anfangs habe ich Euch bloß etwas vorgespielt«, gestand er. »Aber dann ist meine Liebe zu Euch gewachsen.« In seinem Lächeln spiegelte sich sehnsuchtsvolles Verlangen. »Ihr seid so schön und stark, so klug und mächtig. Ihr seid alles, was ich mir bei einem Mann ersehne … Ihr seid so, wie ich selbst gerne sein will. Ich würde alles für Euch tun!« Er hob Yanagisawas Hand an seinen Mund und drückte die Lippen auf den Handteller.
    Eine Flut unterschiedlichster Gefühle brach über Yanagisawa herein. Zuerst war da der Unglaube, dass jemand um seinetwillen eine solche Geste der Selbstaufopferung gezeigt hatte. Dann stieg eine lebhafte Erinnerung in ihm auf. An dem Tag, als er das Amt des Kammerherrn übernommen hatte, hatte er ein großes Fest im Palast von Edo gegeben – mit Musikern und Tänzern, Parodien von Kabuki-Theaterstücken und den köstlichsten Speisen und Getränken. Alle männlichen Gäste waren Untergebene gewesen, die sich irgendeine Gunst von dem neuen Kammerherrn erhofft hatten. Und sämtliche Frauen waren Kurtisanen gewesen, die von Yanagisawa – nun ein reicher Mann – bezahlt worden waren. Aus seiner Familie, von der er sich entfremdet hatte, war niemand erschienen. Auch Freunde waren nicht gekommen, denn Yanagisawa hatte keine Freunde. Den Gästen, die mit ihm feierten, war er als Mensch vollkommen gleichgültig; für sie zählte allein die Macht, die er verkörperte. Inmitten der aufgesetzten Lächeln und unaufrichtigen Glückwünsche hatte Yanagisawa das Gefühl völliger Leere verspürt.
    Nun weitete diese Leere sich zu einer riesigen, gähnenden Höhle in seinem Inneren – eine Höhle, aus der die Stimme seiner Seele klagend heulte und nach der Liebe verlangte, die Yanagisawa herbeisehnte, aber nie bekommen hatte. Tränen traten dem Kammerherrn in die Augen – Tränen, die er bei der Beerdigung seines Bruders hätte vergießen sollen; stattdessen hatten sie sich über die Jahre hinweg zu einem riesigen Reservoir der Einsamkeit aufgestaut. Shichisaburôs Opfer rührte ihn bis in sein Innerstes. Er wollte den Jungen an sich drücken, wollte seine sanften Arme spüren, wollte endlich Gefühl zeigen, Dankbarkeit, aufrichtige Empfindungen …
    Dann, aus der Ferne der Vergangenheit, hörte er die Stimme seines Vaters: »… träge, nicht würdig, mein Sohn zu sein … jämmerlich und ehrlos …« Yanagisawa musste an die Stockhiebe denken. Und wieder hatte er das Gefühl völliger Wertlosigkeit, das Gefühl des Versagens, das Gefühl, dass er keine Liebe verdiente. Er hasste diese scheußliche Empfindung und zwang sich, daran zu denken, wer er war – der Stellvertreter des Shôguns –, und wer Shichisaburô war: ein gemeiner Bürger, ein Bauerntrampel, der dumm genug war, seinen Körper für einen anderen Menschen zu verunstalten. Wie konnte dieser Narr so dreist sein, den wahren Herrscher Japans zu lieben?
    Yanagisawas Verlangen und seine Dankbarkeit verwandelten sich in heißen Zorn. Er riss die Hand zurück, die Shichisaburô noch immer an seine Lippen drückte, und fuhr ihn an: »Wie kannst du es wagen, mich so unverschämt zu behandeln?« Er schlug Shichisaburô ins Gesicht. Der junge Schauspieler schnappte nach Luft; Schmerz spiegelte sich in seinen Augen. »Ich habe dir nicht befohlen, mich zu lieben. Wie kannst du es wagen!«
    Die Lektionen seines bisherigen Lebens erfüllten Yanagisawa mit einer solchen Furcht, dass sein Zorn noch weiter entflammt wurde. Die Liebe machte einen Menschen verwundbar und abhängig; Liebe konnte nur ins Unglück führen. Yanagisawas Eltern hatten seine kindlichen Versuche verschmäht, ihre Achtung und Zuneigung zu gewinnen; ihre Gefühlskälte war viel schlimmer gewesen als die Schläge. In Shichisaburôs Liebe erkannte Yanagisawa das schreckliche Versprechen zukünftiger Zurückweisung, die Aussicht auf noch mehr

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