Das Geheimnis
Familientradition offensichtlich treu geblieben.
»Könnt Ihr mir sagen«, fragte Sano Fürst und Fürstin, »ob Konkubine Harume die Absicht hatte, sich selbst zu tätowieren?«
Fürst Miyagi zog an der Pfeife und nickte, während seine Gemahlin antwortete: »Ja, wir wussten davon. Es war der Wunsch meines Gemahls, dass Harume ihm ihre Hingabe beweisen sollte, indem sie sich ein Zeichen der Liebe in die Haut ritzte. Ich selbst habe den Brief geschrieben, in dem ich Harume darum gebeten habe.«
Sano fragte sich, ob Fürstin Miyagis steifes Auftreten eine sexuelle Kälte widerspiegelte, die normale eheliche Beziehungen zwischen ihr und ihrem Gemahl unmöglich machte. Fraglos war sie unansehnlich und besaß keines der Schönheitsmerkmale, die sie für einen Mann wie Fürst Miyagi anziehend gemacht hätte. Vielleicht verschaffte es ihr Lustgefühle, ihrem Mann die Konkubinen und Kurtisanen zuzuführen; schließlich stammte die Fürstin selbst aus diesem verrufenen, für seine sexuellen Abartigkeiten berüchtigten Klan.
Aus einem Stoffbeutel, den er an der Hüfte trug, holte Sano das schwarze Tuschefläschchen, dessen Inhalt Harume den Tod gebracht hatte. »Dann hat sie das hier von Euch bekommen?«
»Ja, das Fläschchen haben wir ihr zusammen mit dem Brief geschickt«, antwortete Fürstin Miyagi gelassen. »Ich habe es gekauft. Mein Gemahl hat Harumes Namen auf den Verschluss geschrieben.«
Also hatten beide das Fläschchen in Händen gehabt. »Wann war das?«, verlangte Sano zu wissen.
Fürstin Miyagi dachte nach. »Vor vier Tagen, wenn ich mich recht entsinne.«
Das wäre zu einem Zeitpunkt gewesen, bevor Leutnant Kushida vom Dienst im Inneren Schloss suspendiert worden war, aber nachdem Harume sich über ihn beschwert hatte. Doch Kushida behauptete, vorher nichts von der Tätowierung gewusst zu haben. Was Konkubine Ichiteru betraf, hatte Sano noch keine dahin gehende Auskunft; wahrscheinlich würde er die Informationen in Kürze von Hirata erhalten. Wie es bis jetzt aussah, schienen die Miyagis am ehesten die Möglichkeit gehabt zu haben, der Tusche ein tödliches Gift beizumischen.
»Habt Ihr Euch gut mit Konkubine Harume verstanden?«, fragte Sano den Fürsten.
Miyagi zuckte träge mit den Schultern. »Wir haben uns nie gestritten, wenn Ihr das meint. Ich habe sie so sehr geliebt, wie ich einen Menschen nur lieben kann. Unsere Beziehung hat mir gegeben, was ich wollte, und ich glaube, das galt auch für Harume.«
»Und was wollte sie?« Aus Harumes Tagebuch ging hervor, auf welche Weise sie Fürst Miyagi Befriedigung verschafft hatte, doch Sano war neugierig, weshalb die schöne Konkubine für diese schmutzigen und öden Begegnungen mit einem so unansehnlichen Mann ihr Leben aufs Spiel gesetzt hatte.
Zum ersten Mal spiegelte sich Unbehagen auf dem Gesicht des Fürsten; sein Adamsapfel hüpfte im schlaffen Fleisch seiner Kehle auf und ab, und er schaute seine Gemahlin an. Fürstin Miyagi erklärte: »Harume verlangte es nach Abenteuern, sôsakan-sama. Und die verbotene Beziehung mit meinem Gemahl konnte dieses Verlangen befriedigen.«
»Und Ihr?«, fragte Sano. »Wie habt Ihr über Konkubine Harume und diese Liebesbeziehung gedacht?«
Wieder lächelte die Frau – ein seltsam unangenehmer Ausdruck, der ihre Unansehnlichkeit nur betonte. »Ich war Harume dankbar, so wie ich allen Frauen meines Gemahls dankbar bin. Ich betrachte sie als Partnerinnen bei der Erfüllung der Pflicht, meinem Gatten Lust und Freude zu verschaffen.«
Sano war dermaßen angewidert, dass er ein Schaudern unterdrücken musste. Fürstin Miyagi erinnerte ihn an die Bordellbesitzer im Vergnügungsviertel Yoshiwara, die mit berufsmäßigem Geschick die sexuellen Lüste ihrer Kunden zu wecken verstanden. Offenbar machte es dieser Frau nichts aus, vulgär oder pervers zu erscheinen. Aus einiger Entfernung drang leise Musik über den Gang, begleitet von den Singstimmen der beiden Konkubinen. Sano wurde plötzlich bewusst, wie still es in diesem Haus war. Er vernahm keines der Geräusche, wie man sie für gewöhnlich in der Villa eines Provinzfürsten hören konnte: die Schritte patrouillierender Soldaten, die Stimmen von Dienern, die Geräusche von Handwerkern und Hilfskräften bei der Arbeit. Die Villa der Miyagis ließ nicht einmal die Straßengeräusche bis ins Innere dringen, was Sanos anfänglichen Eindruck verstärkte, sich in einer abgeschlossenen Welt zu befinden. Was für ein seltsames Haus!
»Ihr seht also«, sagte der
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