Das Geheimnis
der Gedanke kam, dass so die Ehe für eine Frau aussehen musste: daheim warten, bis ihr Gemahl nach Hause kam, sich Fragen stellen und Sorgen machen. Plötzlich verstand er Reikos Rebellion gegen ihre Rolle als Frau und Gattin; doch rasch verdrängte der Zorn das Verständnis. Was hier geschah, gefiel Sano ganz und gar nicht. Wie konnte Reiko es wagen, ihn so zu behandeln? Eine weitere Stunde verging, und noch immer war keine Spur von Reiko zu sehen. Zorn wurde wieder zu Sorge, und Sorge zu Furcht. Wenn Reiko in einem brennenden Gebäude eingeschlossen war, oder wenn Straßenräuber sie überfallen hatten …?
Endlich hörte er draußen Hufgetrappel. Vor Erleichterung setzte sein Herz einen Schlag lang aus. Endlich! Sano stürmte zur Eingangstür, als Reiko mit ihrem Gefolge im Schlepptau das Haus betrat. Ihre Augen funkelten vom kalten Wind, und aus ihrer kunstvollen Frisur hatten sich Strähnen gelöst. Sie sah überaus reizvoll aus – und nicht minder selbstzufrieden.
»Wo bist du gewesen?«, fragte Sano schroff. »Ohne meine Erlaubnis hättest du nicht fortgehen dürfen! Nicht einmal eine Nachricht hast du mir hinterlassen! Und jetzt sag mir, was du so spät noch außer Haus getan hast!«
Die Diener, die einen Ehestreit befürchteten, stahlen sich rasch davon. Reiko straffte die Schultern und schob trotzig das Kinn vor. »Ich habe Nachforschungen über den Mord an der ehrenwerten Harume angestellt.«
»Obwohl ich es dir verboten habe?«
»Ja!«
Trotz seines Zorns kam Sano nicht umhin, Reikos Mut zu bewundern. Eine schwächere Frau hätte vielleicht gelogen, um einem Tadel aus dem Weg zu gehen; Reiko jedoch behauptete sich. Und in ihrer Wut sah sie so reizvoll aus, dass Sano spürte, wie er wider Willen von ihr erregt wurde. Sie funkelte ihn an, strich sich eine Haarsträhne aus der Stirn und leckte über ihren abgebrochenen Zahn. Sano versuchte herablassend zu lachen, was ihm jedoch misslang.
»Nachforschungen? Du? Wie denn?«
Die Hände in die Hüften gestemmt reckte Reiko wieder das Kinn vor. »Du solltest mich nicht so voreilig verspotten, ehrenwerter Gemahl«, sagte sie in kühlem Tonfall. »Ich war in Nihonbashi, um mich mit meiner Cousine Eri zu treffen. Sie ist Palastbeamtin im Inneren Schloss. Eri erzählte mir, dass Leutnant Kushida zwei Tage vor dem Mord in Harumes Gemach erwischt worden ist, und dass Konkubine Ichiteru Harume gedroht hat, sie umzubringen, als die beiden am Tempel der Kannei eine Schlägerei hatten.«
Reiko lachte, als sie Sanos verdutzten Gesichtsausdruck sah. »Damit hast du nicht gerechnet, stimmt’s? Wenn ich nicht wäre, hättest du niemals davon erfahren, weil beide Vorfälle nämlich verheimlicht wurden! Außerdem ist Eri ziemlich sicher, dass vor einiger Zeit jemand einen Dolch nach Harume geworfen hat und dass bereits im vergangenen Sommer ein Giftanschlag auf sie verübt worden ist.« Mit knappen Worten schilderte Reiko die Begebenheiten; dann fragte sie: »Wie lange hättest du gebraucht, um das alles herauszufinden? Du brauchst meine Hilfe. Gib es doch endlich zu!«
Falls Reiko Recht hatte, war Leutnant Kushida an dem Tag in Harumes Zimmer gewesen, als Fürst und Fürstin Miyagi Tuschefläschchen und Brief geschickt hatten. Möglicherweise hatte Kushida den Brief gelesen und die ideale Gelegenheit erkannt, das Gift, mit dem er Harume ohnehin hatte ermorden wollen, in die Tusche zu mischen. Außerdem hatte Reiko bestätigt, dass Konkubine Ichiteru ihre Rivalin Harume gehasst hatte. Sano war von Reikos Fähigkeiten beeindruckt, doch dass sie keine Spur von Reue zeigte, ließ wieder Zorn in ihm auflodern.
»Mit ein paar vereinzelten Hinweisen kann man keinen Mordfall lösen!«, schimpfte er, obwohl er ganz genau wusste, dass das manchmal sehr wohl möglich war. »Und woher soll ich wissen, dass deine Cousine eine glaubwürdige Zeugin ist? Oder dass ihre Theorien zutreffen? Du warst ungehorsam mir gegenüber, obwohl ich dein Gatte bin, und hast dich für nichts in Gefahr begeben!«
»Gefahr?« Verwundert runzelte Reiko die Stirn. »Ich habe noch nie gehört, dass jemand vom Reden und Zuhören gestorben wäre.«
Reikos Spott ließ Sanos Wut überkochen, sodass er auf weibliche Empfindsamkeiten keine Rücksicht mehr nahm. »Als ich noch Polizeioffizier war, hatte ich einen Schreiber, einen Mann, der noch jünger war als du.« Bei der Erinnerung an Tsunehikos kindliche Unschuld wurde Sanos Stimme heiser. »Er starb in einer schäbigen Herberge an einer Fernstraße,
Weitere Kostenlose Bücher