Das Geheimnis
diesen Vorschlag. »Und was ist, wenn der Mörder sie als Bedrohung betrachtet und sie angreift, wenn ich nicht bei ihr bin, um sie zu schützen?« Mochte sein Zorn auf Reiko auch noch so groß sein, der Gedanke, sie zu verlieren, erfüllte Sano mit Entsetzen. Er hatte sich in Reiko verliebt, wie er sich eingestehen musste, doch ohne große Aussicht, dass sie seine Liebe jemals erwidern würde, sofern er kein Entgegenkommen zeigte. Doch Sano weigerte sich, die unumschränkte Herrschaft über sein Haus und den Haushalt aufzugeben.
»Eure Unnachgiebigkeit ist ein Hindernis auf dem Weg zu einer glücklichen Ehe«, bemerkte Magistrat Ueda. »Reiko wird sich unterwerfen müssen, wenn Ihr sie zum Gehorsam zwingt, aber sie würde Euch niemals lieben oder achten. Deshalb wird ein Entgegenkommen von Eurer Seite unumgänglich sein, fürchte ich.«
Sano seufzte. »Also gut. Ich werde versuchen, mir eine Aufgabe für Reiko zu überlegen.« Er hielt kurz inne und kam dann auf den anderen Grund seines Besuchs zu sprechen. »Ich bin auch deshalb gekommen, weil ich hoffe, dass Ihr mir Hintergrundinformationen über die Mordverdächtigen geben könnt.« Hatten die Verdächtigen sich schon einmal irgendwelcher Verbrechen schuldig gemacht, oder waren Klagen gegen sie erhoben worden, war dies in den amtlichen Gerichtsakten festgehalten. Und ungeachtet seiner ehelichen Probleme, hatte die Heirat Sano einen unschätzbaren Vorteil verschafft: die Verbindung zu Magistrat Ueda. »Hatten Leutnant Kushida, Konkubine Ichiteru oder der Fürst und die Fürstin Miyagi zuvor schon einmal Schwierigkeiten mit dem Gesetz?«
»Heute Morgen habe ich die Dokumente über Kushida und Ichiteru durchgesehen, als ich hörte, dass sie unter Mordverdacht stehen«, erwiderte Magistrat Ueda. »Aber ich habe nichts von Bedeutung gefunden. Bei den Miyagis sieht die Sache jedoch anders aus. Ich kann mich an einen Vorfall erinnern, der vier Jahre her ist. Damals verschwand die Tochter eines Wachsoldaten von einem benachbarten Anwesen. Die Eltern des Mädchens behaupteten, Fürst Miyagi wäre für ihr Verschwinden verantwortlich. Er habe sie in seine Villa gelockt und versucht, sie zu verführen. Als sie sich wehrte, habe der Fürst sie ermordet.«
Sano war wie gebannt. Vielleicht war Miyagi auf den Spuren seiner verruchten Ahnen gewandelt. Viel leicht hatte er das Mädchen vergiftet – und später Harume –, weil sie sich geweigert hatte, bei seinen sexuellen Perversionen mitzumachen.
»Hat man das Mädchen gefunden?«, fragte Sano.
»Ja. Ein paar Tage nach ihrem Verschwinden wurde ihre Leiche in einem Kanal entdeckt. Die Polizei konnte die Todesursache nicht feststellen; deshalb wurde keine Anklage gegen Fürst Miyagi erhoben. Der Fall ist bis heute ungeklärt.« Tiefe Verachtung spiegelte sich auf dem Gesicht des Magistrats wider. »So arbeitet bei uns die Justiz!«
»Ja«, pflichtete Sano ihm bei. »Das Wort eines Wachsoldaten wiegt nichts gegen das eines daimyo wie Fürst Miyagi – ein Mann mit Macht und Einfluss.«
»Macht und Einfluss können schreckliche Bedrohungen sein, Sano-san.« Der Magistrat bedachte seinen Schwiegersohn mit einem eindringlichen Blick. »Kurz nach dem Tod seiner Tochter wurde der Wachsoldat von Fürst Miyagis Gefolgsleuten aus der Stadt gejagt. Er bekam keine neue Anstellung mehr. Er und seine Frau starben in bitterer Armut. Der bakufu hat sie nicht beschützt … so wenig, wie er Fürst Miyagi bestraft hat.«
Sano rang sich zu einem Entschluss durch. »Da wäre noch eine Sache, die ich Euch im Zusammenhang mit dem Mord an Harume fragen möchte – eine sehr heikle Angelegenheit. Versprecht Ihr mir, strengstes Stillschweigen zu wahren?« Nachdem Magistrat Ueda es Sano versichert hatte, erzählte dieser ihm von Harumes Schwangerschaft.
Der Magistrat runzelte nachdenklich die Stirn, zögerte und sagte schließlich: »Dann besteht die Möglichkeit, dass der Mord an Konkubine Harume mit der Erbfolge der Tokugawa zu tun hat, und dass mächtige Leute in die Sache verwickelt sind – Leute, die das Regime der Tokugawa beseitigen möchten, indem sie für das Aussterben des Klans sorgen. Die Feudalherren in den Provinzen, zum Beispiel. Oder ein gewisser Mann, der Euch in der Vergangenheit schon viele Steine in den Weg gelegt hat, hm?«
Kammerherr Yanagisawa. Als Sano an Yanagisawas ungewohntes Verhalten bei ihrer letzten Begegnung dachte, fragte er sich besorgt, ob die seltsame Freundlichkeit des Kammerherrn darauf hindeutete, dass
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