Das Geheimnis
anzuhören und mich für eine mildere Strafe einzusetzen, falls Ihr gute Gründe für Euer Tun anführen könnt, die eine solche Empfehlung rechtfertigen. Also redet, und zwar schnell. Ich habe nicht die ganze Nacht Zeit.«
Leutnant Kushida starrte Sano, Hirata und die Sonderermittler finster an. Ein letztes Mal zerrte er verzweifelt an den Fesseln; dann brach sein Widerstand zusammen. Seine Schultern sanken herab, und er ließ den Kopf hängen. »Ich habe nach dem Tagebuch von Konkubine Harume gesucht«, sagte er leise.
»Wie habt Ihr davon erfahren?«, verlangte Sano zu wissen.
Auf Kushidas Gesicht gingen Trauer und Verzweiflung, Würde und Stolz eine seltsame Mischung ein. »Ich habe es in ihrem Schrank gefunden.«
»Wann?«
»Drei Tage vor ihrem Tod.«
»Also war es gelogen, als Ihr behauptet habt, nie im Gemach von Harume gewesen zu sein.« Sano hatte Gewissensbisse. Dass Kushida sich in Harumes Gemach geschlichen hatte, hatte Reiko bereits von ihrer Cousine Eri erfahren und es ihm erzählt, doch Sano hatte seiner Frau nicht glauben wollen.
»Ja, ich gebe zu, dass ich gelogen habe«, bestätigte Leutnant Kushida mit dumpfer Stimme. »Ich habe deshalb gelogen, weil ich nicht in Harumes Gemach gewesen bin, um sie zu vergiften, wie Ihr gemeint habt. Und ich bin auch nicht hierher gekommen, um jemandem ein Leid zuzufügen. Ich wollte mir Harumes Tagebuch beschaffen. Als ich mich heute Abend zum Dienst gemeldet habe, wollte ich wieder in ihr Gemach und das Tagebuch an mich nehmen. Aber der Hauptmann der Wachmannschaft im Inneren Schloss sagte mir, ich dürfe meinen Dienst noch nicht antreten, denn Ihr hättet dafür gesorgt, dass meine Wiedereinstellung als Leutnant der Wache noch hinausgeschoben wurde.« Voller Bitterkeit blickte Kushida kurz zu Sano. »Dann erfuhr ich von einem Soldaten, dass Ihr Harumes Tagebuch als Beweisstück beschlagnahmt habt. Deshalb bin ich hier eingedrungen.«
Sano wünschte sich, er hätte den gefährlichen, unberechenbaren Kushida für immer aus der Wachmannschaft des Palasts ausschließen lassen; doch dieser Gedanke trat angesichts der Fragen, die sich ihm nun aufdrängten, rasch in den Hintergrund. »Weshalb wolltet Ihr Harumes Tagebuch stehlen?«
»Beim ersten Mal konnte ich nur ein paar Seiten darin lesen«, antwortete Kushida traurig. »Ich wollte erfahren, wer ihr Liebhaber war. Ich dachte, Harume hätte den Namen irgendwo niedergeschrieben.«
»Woher habt Ihr gewusst, dass Harume einen Liebhaber hatte?« Sano blickte vielsagend zu Hirata: Der Leutnant hatte nicht nur gestanden, in Harumes Gemach eingedrungen zu sein, er hatte sich überdies selbst zusätzlich mit einem weiteren Mordmotiv belastet.
Jetzt, da aller Kampfgeist von ihm abgefallen war, sah Kushida wie ein großer, trauriger Affe aus. »Wenn ich Harume und den anderen Damen bei ihren Ausflügen aus dem Palast Geleitschutz gegeben habe, hat sie sich jedes Mal von den anderen davongeschlichen. Dreimal bin ich ihr gefolgt, und dreimal habe ich sie verloren. Beim vierten Mal habe ich sie in einem Gasthof in Asakusa aufgespürt, kam aber nicht durchs Tor, weil es von Soldaten bewacht worden ist. Sie trugen keine Wappen und wollten mir nicht sagen, in wessen Dienst sie standen.«
Fürst Miyagis Männer, überlegte Sano, die ihren Herrn abschirmten, während dieser sein Stelldichein mit Harume hatte.
»Den Mann, den Harume statt meiner erwählt hat, habe ich nie gesehen«, fuhr Kushida fort. »Aber ich wusste, dass es einen anderen gab. Warum sonst diese Heimlichtuerei? In den Nächten liege ich wach und fragte mich, wer dieser Mann gewesen ist. Ich neide es ihm, dass er Harume besitzen durfte! Ich muss erfahren, wer der Unbekannte ist, sonst bringt es mich um!« Kushidas Augen glühten vor lauter Besessenheit, die auch nach Harumes Tod nicht schwächer geworden war. »Habt Ihr das Tagebuch noch?« Am ganzen Körper zitternd blickte er Sano flehend an. »Bitte, darf ich es sehen?«
Sano fragte sich, ob der Leutnant vielleicht einen anderen, eher praktischen Grund hatte, Harumes Tagebuch zu stehlen. Vielleicht befürchtete er, es könnte Eintragungen enthalten, die ihn belasteten.
»Als Ihr in Harumes Gemach wart – habt Ihr da auch ein Tuschefässchen und einen Liebesbrief gefunden, in dem sie gebeten wurde, sich selbst zu tätowieren?«, fragte Sano.
Kushida schüttelte ungeduldig den Kopf. »Ich habe Euch schon einmal gesagt, dass ich dieses Tuschefässchen und den Brief nie gesehen habe. Nach solchen Dingen
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