Das Geheimnis
Kindertagen ballten sich bereits die düsteren Wolken ihrer Zukunft.
Die Klagen der Erwachsenen waren wie ein ständiges Hintergrundgeräusch. Sie jammerten über die kärglichen Speisen, die unmodische Kleidung, den Mangel an Unterhaltung, die wenigen Diener und die Regierung. Nach und nach begriff Ichiteru den Grund für ihr zwar vornehmes, aber vergleichsweise armes Leben und den Zorn der Erwachsenen auf das Regime der Tokugawa: Der bakufu befürchtete, dass die kaiserliche Familie versuchen könnte, ihre einstige Macht zurückzugewinnen und beschränkte den Unterhalt der ehemaligen Herrscher deshalb auf ein Mindestmaß, sodass es ihnen unmöglich war, Truppen anzuwerben und sich mit Waffengewalt gegen den bakufu zu erheben. Doch erst als Erwachsene erkannte Ichiteru, wie sehr die Politik ihr Leben von Anfang an bestimmt hatte.
»Aaah, Ichiteru.« Tokugawa Tsunayoshis Stimme holte sie in die Wirklichkeit zurück. »Manchmal glaube ich, du bist der einzige Mensch, der mich versteht.«
Als Ichiteru auf ihn hinunterschaute, sah sie, dass sich seine Züge entspannt hatten. Endlich war er bereit für sexuelle Genüsse. »Ja, ich verstehe, Herr«, erwiderte Ichiteru mit aufreizendem Lächeln. »Und ich habe Euch ein Geschenk mitgebracht.«
»Was ist es?« Wie ein ungeduldiges Kind setzte der Shôgun sich auf. Freudige Erwartung funkelte in seinen Augen.
Konkubine Ichiteru legte das Buch vor ihn hin. »Es ist ein erotisches Buch, das ein berühmter Künstler nur für Euch geschaffen hat, Herr.«
Ichiteru schlug es auf und blätterte die erste Seite um. Neben Gedichten enthielt das Buch eine Sammlung von shunga, erotischen Drucken – und einen solchen betrachtete der Shôgun nun mit gierigen Augen: In wunderschönen zarten Farben zeigte die Abbildung zwei nackte Samurai, die Seite an Seite unter den herabhängenden Ästen einer Weide lagen und einander die erigierten Glieder streichelten. Ihre Schwerter lagen auf ihren Kleidungsstücken, die sie achtlos zu Boden geworfen hatten. In einer Ecke der Abbildung stand in schwungvollen Schriftzeichen:
Seht die Krieger im Frieden:
Ach, mögen ihre Stäbe aus Jade
Über Klingen aus Stahl triumphieren.
»Wundervoll«, sagte Tokugawa Tsunayoshi mit heiserer Stimme. »Du weißt, was mir gefällt, Ichiteru.« Auf der anderen Seite der Wand war ein leises Rascheln zu hören, als Hofdame Chizuru sich bewegte, während sie aufmerksam lauschte. Erst jetzt fiel dem Shôgun das männliche Erscheinungsbild der Konkubine auf. Er hob die Brauen und betrachtete sie interessiert. »Und wie schön du heute Abend aussiehst.«
»Ich danke Euch, Herr.« Zufrieden erkannte Ichiteru, dass ihr Plan, den Shôgun zu verführen, aufzugehen schien. Sie ließ ihn ihren Anblick noch eine Zeit lang bewundern; dann blätterte sie die Seite im Buch um. Diesmal zeigte das shunga einen kahlköpfigen buddhistischen Priester, der in der Gebetshalle eines Tempels stand und seine safrangelbe Robe bis hoch über die Taille gehoben hatte. Vor dem Priester kniete ein junger Novize und befriedigte ihn. Das Gedicht lautete:
Wie ein Regentropfen im Sommergewitter
Ist die Erleuchtung des Geistes,
Im Vergleich zur Ekstase des Fleisches!
»Aaah, wie herrlich lästerlich! Wie wundervoll verwerflich!« Kichernd lehnte Tokugawa Tsunayoshi sich an Ichiteru. Auf dem Flur waren die rhythmischen Schritte patrouillierender Wachen zu hören. Im Nebenzimmer hustete Hofdame Chizuru leise. Doch der Shôgun schien dies alles gar nicht wahrzunehmen, als er Ichiteru nun lüstern betrachtete.
Die Konkubine lächelte ermutigend, musste jedoch einen Schauder des Ekels unterdrücken. Die Dümmlichkeit des Shôguns und sein kränklicher Körper hatten sie immer schon zutiefst abgestoßen. Hätte sie sich einen Liebhaber suchen dürfen, sie hätte einen Mann wie Hirata erwählt, den jungen Sonderermittler. Welchen Genuss es ihr bereitet hatte, ihn im Puppentheater aus der Fassung zu bringen! Hirata war ein Mann, der ihr wirklich gefallen könnte. Doch Ichiterus Ehrgeiz musste stärker bleiben als ihr Gefühl. Sie musste die Bestimmung erfüllen, die ihr vor langer Zeit auferlegt worden war.
In Ichiterus Kinderzeit hatten häufig Angehörige der kaiserlichen Familie in der Villa ihrer Eltern vorbeigeschaut und zugeschaut, wenn Ichiteru Unterrichtsstunden in Musik, Kalligrafie und höfischem Benehmen bekam. »Ichiteru ist sehr vielversprechend«, hatten die hohen Besucher jedes Mal gesagt, und Ichiteru – ein kluges, aber
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