Das Geheimnis
habe ich auch gar nicht gesucht. Alles was ich wollte war ein … persönliches Andenken an Harume.« Beschämt senkte er den Blick und fuhr leise fort: »Schließlich fand ich das Tagebuch. Es lag zwischen Harumes Unterkleidung. Von ihrer Tätowierung wusste ich nicht, wie ich Euch schon einmal gesagt habe. Bitte, glaubt mir, ich habe Harume nicht vergiftet!«
»Wie ich hörte, war sie letzten Sommer schwer erkrankt«, sagte Sano. »Außerdem soll jemand einen Dolch nach ihr geworfen haben. Habt Ihr davon gewusst? Wart Ihr dafür verantwortlich?«
»Nein! Ich wusste davon, aber wenn Ihr meint, ich hätte irgendetwas damit zu tun, dann irrt Ihr Euch.« Kushida starrte Sano trotzig an. »Ich hätte Harume nie etwas zuleide tun können. Ich habe sie geliebt. Ich habe sie nicht ermordet! «
Sano sah plötzlich einen Weg aus diesem Dilemma vor sich, strahlend wie ein von der Sonne erleuchteter Pfad durch einen finsteren Wald. Kushidas versuchter Einbruchdiebstahl machte den Leutnant zum Hauptverdächtigen im Mordfall Harume. Er hatte bei der ersten Vernehmung gelogen, sodass seine Beteuerungen nun wenig überzeugend waren. Falls Sano den Leutnant des Mordes anklagte, war seine Verurteilung so gut wie sicher; die meisten Gerichtsverhandlungen endeten mit einem Schuldspruch. Und durch Kushidas Verurteilung konnte Sano den politischen Gefahren aus dem Weg gehen, die eine Weiterführung der Nachforschungen mit sich bringen würde, und sich die drohende Schande der Hinrichtung ersparen, falls er versagte. Und wenn dieser Mordfall – der Hauptgrund für seine ehelichen Spannungen – erst gelöst war, konnte er mit Reiko einen Neuanfang machen. Aber noch war Sano nicht bereit, den Fall abzuschließen.
»Leutnant Kushida«, sagte er, »ich stelle Euch unter Hausarrest, bis die Ermittlungen im Mordfall Harume beendet sind. Erst dann wird über Euer Schicksal entschieden werden. Bis dahin werdet Ihr unter ständiger Bewachung im Haus Eurer Familie bleiben und dürft es nicht verlassen, außer im Fall eines Feuers oder eines Erdbebens.« So lauteten die üblichen Vorschriften beim Hausarrest – ein Privileg, das nur einem Samurai gewährt wurde, um ihm auf diese Weise die Schande einer Gefängnisstrafe zu ersparen. »Führt ihn ins banchô«, wies Sano die Sonderermittler an. Das banchô war das Viertel im Westen des Palasts von Edo, wo die Erbgefolgsleute der Tokugawa wohnten.
Hirata blickte Sano bestürzt an. »Wartet noch, sôsakan-sama. Darf ich zuvor noch ein Wort mit Euch reden?«
Sie gingen hinaus auf den Flur und überließen es den Sonderermittlern, Leutnant Kushida zu bewachen. Hirata flüsterte: » Sumimasen – verzeiht, aber ich glaube, Ihr macht einen Fehler. Kushida ist schuldig und lügt, um seinen Kopf zu retten. Er hat Harume getötet, weil sie einen Liebhaber hatte, auf den er eifersüchtig war. Kushida sollte angeklagt und vor Gericht gestellt werden. Warum seid Ihr so nachsichtig mit ihm?«
»Und warum bist du so versessen auf eine rasche und einfache Lösung des Falles? Noch dazu zu einem so frühen Zeitpunkt der Ermittlungen?«, erwiderte Sano. »Das sieht dir gar nicht ähnlich, Hirata-san.«
Hirata errötete, erklärte jedoch starrköpfig: »Ich bin überzeugt, dass Kushida Harumes Mörder ist.«
Sano wusste, dass jetzt nicht der richtige Zeitpunkt war, um die Probleme seines obersten Gefolgsmannes anzusprechen, wie immer diese auch aussehen mochten. »Die Schwachpunkte einer Klage gegen Kushida liegen auf der Hand. Erstens lässt der Einbruch zwar darauf schließen, dass mit dem Mann etwas nicht stimmt, aber es bedeutet nicht zwangsläufig, dass er Harumes Mörder sein muss. Zweitens hat Kushida zwar in einigen Punkten gelogen, aber das heißt noch lange nicht, dass wir alle seine Aussagen als Lügen betrachten dürfen.
Drittens kommt der wahre Mörder womöglich ungestraft dav on, während ein Unschuldiger hingerichtet wird, wenn wir den Fall ohne hieb- und stichfeste Beweise gegen Kushida zu den Akten legen. Und das wiederum könnte bedeuten, dass der Täter weitere Morde begeht.« Sano erzählte Hirata von Magistrat Uedas Verschwörungstheorie. »Falls es tatsächlich ein Komplott gegen den Shôgun gibt, müssen wir sämtliche Beteiligten aufspüren, um die Bedrohung für die Tokugawa ein für alle Mal zu beseitigen.«
Hirata nickte. Widerwillig musste er seinem Vorgesetzten Recht geben. Sano beugte sich durch den Türeingang in die Wohnhalle und befahl den Sonderermittlern: »Macht
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