Das Geheimnis
Dunkeln auf?
Waren Reiko, Hirata, die Truppe der Sonderermittler und die Diener, die allesamt in Sanos Villa oder in den Außengebäuden schliefen, sich der Gefahr bewusst?
Atemlos vor Furcht rannte Sano zu seinem Anwesen. Auch hier lagen die beiden Wachsoldaten bewusstlos vor dem Tor.
»Tokubei! Gorô!«, rief Sano, kniete sich hin und schüttelte die Männer. »Seid ihr verletzt? Was ist geschehen?«
Die Wachsoldaten bewegten sich und stöhnten. »… ist an uns vorbeigekommen«, sagte Gorô mit matter Stimme. »Verzeiht …« Er rappelte sich mühsam auf, schwankte benommen und hielt sich den Kopf.
»Wer war das?«, fragte Sano.
»Ich habe ihn … nicht gesehen. Es ging … zu schnell.«
Das eisenbeschlagene Außentor stand offen. Mit gezogenem Schwert huschte Sano hindurch und ließ den Blick über den Hof schweifen. Nichts bewegte sich in der Dunkelheit. Er winkte Gorô, ihm zu folgen, trat vorsichtig an das innere Tor heran … und stolperte über die reglosen Körper der Streifensoldaten. Das Tor zum umzäunten inneren Bereich des Anwesens war angelehnt.
»Geh in die Kasernen, und weck die Männer meiner Polizeitruppe«, sagte Sano zu Gorô, der allmählich wieder zu Sinnen kam. »Sag ihnen, jemand sei ins Haus eingedrungen.«
Der Wächter eilte davon. Sano näherte sich dem umzäunten Innenbereich und stieß das Tor auf. Er wusste, dass er vielleicht in eine Falle tappte, aber er musste Reiko, Hirata und all die anderen schützen, und ihm blieb keine Zeit, auf Hilfe zu warten. Vor ihm ragte die dunkle Villa auf. So leise wie möglich stieg Sano die hölzerne Treppe hinauf. Im Mondschatten unter den Dachvorsprüngen, die weit über die Veranda ragten, blieb er stehen und lauschte. Irgendwo auf dem Hügel wieherte ein Pferd, doch aus dem Inneren des Hauses drang nicht das leisteste Geräusch. Sano schlich durch die offene Eingangstür. Mit zum Schlag erhobenen Schwert bewegte er sich verstohlen über den Flur. Als er zu seiner Schreibstube gelangte, blieb er stehen. Sein Körper verkrampfte sich vor Anspannung.
Durch die papierene, mit Längspfosten verstärkte Wand war das trübe gelbe Licht einer Lampe zu sehen. Die Tür war geschlossen. Dann hörte Sano das Geräusch knarrender Fußbodenbretter, als jemand durchs Zimmer ging; eine Schublade wurde aufgezogen, und das Rascheln von Papier war zu vernehmen. Offensichtlich durchsuchte der Eindringling Sanos Unterlagen. Sano legte zwei Finger auf den Türriegel und schob. Nahezu lautlos glitt der Riegel auf der geölten Schiene zur Seite. Mit äußerster Vorsicht öffnete Sano die Tür und sah in der Nische, in der sein Schreibpult stand, eine Gestalt in schwarzem Umhang, die mit dem Rücken zur Tür stand und das Pult durchwühlte.
Sano sprang ins Zimmer und rief: »Halt! Umdrehen!«
17.
D
er Eindringling wirbelte herum. Es war Leutnant Kushida. Um ihn verstreut lagen Sanos Bücher und Papiere in einem wilden Durcheinander. Kushida hatte bereits die Regale leer gefegt; nun durchwühlte er den Schrank. Sein faltiges, affenartiges Gesicht wurde starr vor Erschrecken, und einen Augenblick lang stand er wie angewurzelt da. Sein furchterfüllter Blick huschte von Sano zu den vergitterten Fenstern und blieb dann auf der naginata haften, dem Speer, der in seiner Nähe an der Wand lehnte.
»Keine Bewegung!«, rief Sano.
Doch Kushida packte den Speer so schnell, dass die Waffe ihm förmlich in die Hand zu springen schien. Er sprang über das Schreibpult hinweg und näherte sich drohend Sano, die Waffe zum Stoß erhoben. Seine Augen waren schwarze Teiche der Verzweiflung. Die scharfe, gekrümmte Speerspitze schimmerte im gedämpften Licht der Laternen.
»Versucht es nicht einmal!«, rief Sano warnend, nahm eine geduckte Abwehrhaltung ein und streckte das Schwert vor. »Meine Leute werden jeden Augenblick hier sein.« Vom Eingang der Villa her erklangen die Geräusche eiliger Schritte sowie laut rufende Stimmen. »Selbst wenn Ihr mich tötet, Ihr würdet nicht entkommen. Lasst die Waffe fallen. Gebt auf!«
Leutnant Kushida griff an. Sano sprang zur Seite, und die Speerspitze verfehlte seine Brust um Haaresbreite. Er umkreiste Kushida und hielt nach einer Möglichkeit zum Gegenangriff Ausschau. Der Leutnant stieß mit dem Speer nach Sanos Kehle, doch Sano parierte den Angriff. Klirrend trafen Speerspitze und Schwertklinge aufeinander. Von der Wucht des Aufpralls wurde Sano zur Seite geschleudert. Dann traf ihn ein schmerzhafter Hieb an der Hüfte, als
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