Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Geheimnis

Das Geheimnis

Titel: Das Geheimnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Joh Rowland
Vom Netzwerk:
gutgläubiges Mädchen, das stets gehorsam und respektvoll Älteren gegenüber war – hatte sich in diesem Lob gesonnt.
    Doch bald darauf waren ganz andere Lektionen gefolgt, die ihr allein erteilt worden waren.
    Eine wunderschöne Kurtisane aus dem Vergnügungsviertel von Kyôto war in den Kaiserpalast gekommen. Sie hieß Ebenholz und hatte Ichiteru alles gelehrt, was eine Frau wissen musste, um einem Mann zu gefallen: wie man sich kleidete, wie man ihm schöne Augen machte, wie man erbauliche Gespräche führte, wie man ihm schmeichelte, wie man mit ihm scherzte und lachte – und wie man ihn verführte. An einer hölzernen Statue hatte Ebenholz ihrer Schülerin gezeigt, was eine Frau tun musste, um einen Mann mit den Händen und dem Mund zu erregen; auch die Benutzung verschiedener Geräte, die der Luststeigerung dienten, hatte sie Ichiteru gezeigt. Und sie hatte das Mädchen Spiele gelehrt, die das Interesse eines Mannes an einer Frau erwecken und wach halten konnten. Schließlich hatte Ebenholz ihrer Schülerin die Geheimnisse des eigenen Körpers gezeigt und Ichiteru zu ihrem ersten sexuellen Höhepunkt geführt. Während das Mädchen keuchte, sich wand und schließlich vor Schmerz und Lust schrie, hatte Ebenholz erklärt: »Genau das wollen die Männer sehen und hören, wenn du mit ihnen schläfst.«
    Ebenholz hatte Ichiteru sogar beigebracht, wie man Männer verführte, die keine Frauen mochten, und wie man auch den ungewöhnlichsten und seltsamsten sexuellen Appetit stillen konnte. Später hatte der Palastarzt sie in der Benutzung von Drogen unterwiesen, die das Verlangen steigerten und förderlich für die Empfängnis waren. Und die gehorsame Ichiteru tat stets, was man von ihr verlangte, ohne zu widersprechen; niemals stellte sie die Frage, weshalb man gerade sie für diesen besonderen Unterricht ausgewählt hatte. Erst an ihrem 16. Geburtstag erfuhr sie, welches Ziel man mit diesen Lektionen verfolgt hatte.
    Gesandte aus Edo kamen in den Palast. Ichiteru wurde in ihre schönsten Gewänder gekleidet und den Männern vorgestellt. Später sagte die Kaiserin zu ihr: »Man hat dich auserwählt, eine der Konkubinen des nächsten Shôguns zu werden. Die Wahrsager haben prophezeit, dass du ihm einen Erben schenken und die kaiserliche Familie mit der der Tokugawa vereinen wirst. Durch dich wird die kaiserliche Familie ihre Macht und ihren Einfluss wiedererlangen. Morgen schon wirst du dich auf die Reise nach Edo begeben.«
    Später erfuhr Ichiteru, dass ihre Familie sie den Gesandten des Shôguns verkauft hatte. In einem Nebel aus Trauer, Schmerz und Furcht ließ sie die monatelange Reise von Kyôto in die Hauptstadt über sich ergehen. Nur ein Gedanke hielt sie am Leben: Das Schicksal der kaiserlichen Familie hing von ihr ab. Sie musste Tokugawa Tsunayoshis Gunst gewinnen, musste ihn verführen und schwanger von ihm werden. Das war ihre Pflicht dem Kaiser und ihrem Land gegenüber – und den Menschen, die sie liebte.
    Doch Ichiterus Einstellung hatte sich rasch geändert. Bald hasste sie den Lärm und die Beengtheit in den Frauengemächern des Inneren Schlosses, die ständige Überwachung, die Unwürdigkeit des aufgezwungenen Geschlechtsverkehrs, die Streitereien und Rivalitäten unter den Konkubinen. Ichiterus Klugheit wandelte sich in Verschlagenheit, und die Liebe zur Familie wurde zum Zorn auf diejenigen, die sie zu diesem jämmerlichen Leben verurteilt hatten. Ihr Pflichtgefühl schwand, und bald galt ihr Streben allein dem Ziel, Macht und Reichtum für sich selbst zu erobern. Und ihr leidenschaftlicher Hass richtete sich auf die Fürstin Keisho-in, die dumm und herrisch war und ständig irgendwelche Dienste verlangte. Dieses vulgäre, ungebildete alte Weib verkörperte all das, was Ichiteru sein wollte, die von viel edlerer Herkunft war: eine Frau von höchstem Rang, die ein Leben in Überfluss und Sicherheit führte, die tun und lassen konnte, was ihr gefiel, und der jeder Respekt und Achtung zollen musste.
    Und so begann Ichiteru ihren Feldzug mit dem Ziel, die Favoritin des Shôguns und Mutter seines Erben zu werden. Tatsächlich bewirkten ihre Schönheit, ihr Reiz und ihre vornehme Herkunft, dass sie rasch zur Lieblingskonkubine Tokugawa Tsunayoshis wurde – wodurch Ichiteru an die Spitze der Hierarchie im Inneren Schloss aufstieg, gleichgültig, ob der Shôgun nur ein paar Nächte oder einen ganzen Monat lang ihre Gesellschaft wünschte, denn in den meisten Nächten verschwendete er seine

Weitere Kostenlose Bücher