Das Geisterhaus
Abschieds, den sie vorausahnten,
aber noch mit einer Versöhnung verwechseln konnten. Amanda
stand auf, um für beide eine Tasse Tee zu bereiten, und Nicolas
sah, daß sie einen alten Unterrock als Nachthemd benutzte. Sie
war dünn geworden, ihre Waden wirkten pathetisch. Barfuß, den
Schal um die Schultern und mit zerzaustem Haar, ging sie
durchs Zimmer, mit dem Spirituskocher beschäftigt an einem
Tisch, der gleichzeitig als Schreibtisch, Eßtisch und Küchentisch
diente. Er sah die Unordnung, in der
Amanda lebte, und
plötzlich wurde ihm klar, daß er bisher so gut wie nichts über sie
gewußt hatte. Er hatte angenommen, daß sie außer ihrem Bruder
keine Angehörigen hatte und von einem bescheidenen Verdienst
leben mußte, war aber nicht fähig gewesen, sich ihre Lage
vorzustellen. Armut war für ihn ein ferner, abstrakter Begriff,
anwendbar allenfalls auf die Hintersassen auf den Drei Marien
und die Armen, die sein Bruder Jaime unterstützte, mit denen er
selbst aber nie in Berührung gekommen war. Amanda, diese ihm
so nahestehende und wohlbekannte Amanda, war plötzlich eine
Fremde für ihn. Er sah ihre Kleider, die wie Verkleidungen einer
Königin wirkten, wenn sie sie trug, traurig wie die Lumpen
einer Bettlerin an ein paar Nägeln an der Wand hängen. Er sah
ihre Zahnbürste in einem Glas auf dem verrosteten
Waschbecken, Miguels Schulschuhe, die so oft gewichst worden
waren, daß sie die ursprüngliche Form verloren hatten, die alte
Schreibmaschine neben dem Spirituskocher, die Bücher
zwischen den Tassen, die zerbrochene, mit Streifen
Zeitungspapier verklebte Fensterscheibe. Es war eine andere
Welt. Eine Welt, deren Existenz er nicht geahnt hatte. Bisher
hatten jenseits der Trennungslinie die feierlichen Armen
gestanden und diesseits Leute wie er, zu denen er auch Amanda
gerechnet hatte. Er wußte nichts von dieser schweigenden
Mittelklasse, die sich zwischen der Armut in weißem Kragen
und Krawatte und der goldenen Kanaille, zu der er gehörte,
herumschlug. Er fühlte sich verwirrt und beschämt, wenn er
daran dachte, bei wie vielen Gelegenheiten Amanda geradezu
hatte hexen müssen, damit niemand im Hause Trueba ihre
Armut wahrnahm, und er, in aller Unschuld, hatte ihr nicht
geholfen. Er erinnerte sich der Geschichten, die sein Vater über
seine arme Kindheit erzählte, der in seinem, Nicolas’ Alter schon
hatte arbeiten müssen, um seine Mutter und seine Schwester zu
ernähren, und zum erstenmal gelang es ihm, diese lehrhaften
Anekdoten mit der Wirklichkeit in Einklang zu bringen. So,
dachte er, mußte das Leben von Amanda gewesen sein.
Sie tranken eine Tasse Tee, auf dem Bett sitzend, weil es nur
einen Stuhl gab. Amanda erzählt e ihm von ihrer Vergangenheit,
ihrer Familie, dem Vater, Lehrer in einer der nördlichen
Provinzen des Landes, der Alkoholilker war, von einer
abgehärmten, traurigen Mutter, die arbeiten ging, um ihre sechs
Kinder durchzubringen, von sich selbst, die aus dem Haus
gelaufen war, sobald sie sich aus eigener Kraft hatte
durchbringen können. Mit fünfzehn war sie in die Hauptstadt
gekommen, hatte Unterschlupf gefunden bei einer gutmütigen
Patin, die ihr eine Zeitlang half. Dann, als ihre Mutter starb, fuhr
sie nach Hause, um sie zu beerdigen, und nahm Miguel mit, der
noch Wickelkind war. Seit damals war sie seine Mutter. Von
ihrem Vater und ihren übrigen Geschwistern hatte sie nichts
mehr gehört. Nicolas spürte, wie der Wunsch in ihm wuchs, sie
zu beschützen und für sie zu sorgen, sie für alle Entbehrungen
zu entschädigen. Er hatte sie nie mehr geliebt als in diesem
Augenblick.
Als es dunkel wurde, sahen sie Miguel mit hochroten Wangen
hereinkommen und sich heimlichtuerisch drehen und wenden,
um ein Geschenk zu verbergen, das er hinter dem Rücken in der
Hand hielt. Es war eine Tüte Brot für seine Schwester. Er legte
sie ihr aufs Bett, dann küßte er Amanda liebevoll, strich ihr mit
seiner Zwergenhand das Haar glatt und schüttelte ihr die Kissen
auf. Nicolas erschrak, weil in den Gesten dieses Kindes mehr
Fürsorge und Zärtlichkeit lagen als in allen Liebesdiensten, die
er je einer Frau erwiesen hatte. »Ich muß noch viel lernen«,
murmelte er. Er lehnte die Stirn an die schmutzige
Fensterscheibe und fragte sich, ob er je fähig sein werde, in
gleichem Maße zu geben, wie er zu empfangen hoffte.
»Wie wollen wir es machen?« fragte er, ohne den Mut
aufzubringen, das schreckliche Wort auszusprechen.
»Bitte deinen
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