Das Geisterhaus
später als der beste des
Jahrhunderts gepriesen und in alle bekannten Sprachen übersetzt
wurde. Alba hatte viele Male auf seinen Knien gesessen, nicht
ahnend, daß sie eines Tages mit einem Strauß blutroter Nelken
in der Hand zwischen zwei Reihen von Maschinengewehren
hinter seinem Sarg hergehen würde.
Clara war noch jung, aber ihrer Enkelin kam sie alt vor, weil
sie keine Zähne mehr hatte. Sie hatte auch keine Falten, und
wenn sie den Mund geschlossen hielt, erweckte sie durch den
unschuldigen Ausdruck ihres Gesichts die Illusion von großer
Jugendlichkeit. Sie trug lose Gewänder aus ungebleichtem
Leinen, die wie Irrenkittel aussahen, und im Winter zog sie
lange Wollsocken und fingerlose Handschuhe an. Sie konnte die
traurigsten Geschichten urkomisch finden, war hingegen
unfähig, einen Witz zu verstehen, lachte zur Unzeit, wenn alle
schon aufgehört hatten zu lachen, und konnte tieftraurig werden,
wenn sie sah, daß jemand anderes sich lächerlich machte.
Manchmal bekam sie Asthmaanfälle. Dann rief sie ihre Enkelin
mit dem silbernen Glöckchen, das sie immer bei sich hatte, und
Alba kam angerannt, umarmte sie und kurierte sie mit
tröstlichem Geflüster, denn beide wußten aus Erfahrung, daß
lange Zeit von einem geliebten Wesen umarmt zu werden das
einzige Mittel gegen Asthma ist. Sie hatte lustige mandelbraune
Augen, das glänzende graue Haar in einen unordentlichen
Knoten gebunden, aus dem widerspenstige Löckchen
hervorstanden, schlanke, weiße Hände mit mandelförmigen
Nägeln und lange, ringlose Finger, die nur dazu dienten, Gesten
der Zärtlichkeit auszuführen, die Wahrsagekarten auszulegen
und zur Essenszeit die falschen Zähne einzusetzen. Alba lief den
ganzen Tag hinter ihrer Großmutter her, an ihrem Rock hängend
und bettelnd, sie solle ihr eine Geschichte erzählen oder kraft
ihres Denkens Vasen marschieren lassen. Bei ihr fand sie eine
sichere Zuflucht, wenn Alpträume sie bedrängten oder wenn das
Training, dem Nicolas sie unterzog, nicht mehr auszuhalten war.
Clara lehrte sie, die Vögel zu versorgen und jeden in seiner
Sprache anzusprechen, die Vorzeichen der Natur zu erkennen
und zwei rechts, zwei links für die Armen zu stricken.
Alba wußte, daß ihre Großmutter die Seele des großen
Eckhauses war. Die anderen merkten es erst später, als Clara
starb und die Blumen, die Freunde und die spielfreudigen
Geister aus dem Haus verschwanden, das nun voll in die Epoche
des Niedergangs eintrat.
Alba war sechs Jahre alt, als sie zum erstenmal
Esteban
García sah, und sie vergaß es nie. Wahrscheinlich hatte sie ihn
schon früher gesehen, auf den Drei Marien, bei einer ihrer
Sommerreisen mit dem Großvater, wenn er mit ihr über seinen
Besitz ritt und ihr mit schwungvoller Gebärde alles zeigte,
soweit der Blick reichte, von den Pappelalleen bis zum Vulkan,
einschließlich der Ziegelhäuschen, und ihr sagte, sie müsse diese
Erde liebenlernen, denn eines Tages würde sie ihr gehören.
»Meine Söhne sind beide Taugenichtse. Wenn sie die Drei
Marien erben, ist das Gut binnen eines Jahres wieder so
verfallen wie zu den Zeiten meines Vaters«, sagte er zu seiner
Enkelin.
»Das alles gehört dir, Großvater?«
»Alles, von der panamerikanischen Straße bis zum Kamm
dieser Hügel, siehst du sie?«
»Warum, Großvater?«
»Was heißt, warum? Weil ich der Eigentümer bin, natürlich.«
»Ja. Aber warum bist du der Eigentümer?«
»Weil das Gut vor mir meiner Familie gehört hat.«
»Warum?«
»Weil sie es von den Indios gekauft hat.«
»Und warum gehört es nicht den Hintersassen, die doch auch
immer hier gewohnt haben?«
»Dein Onkel Jaime setzt dir bolschewistische Ideen in den
Kopf!« brüllte Senator Trueba, rot vor Zorn. »Weißt du, was
hier geschehen würde, wenn kein Patron da wäre?«
»Nein.«
»Alles würde zum Teufel gehen! Niemand wäre da, der
Befehle erteilt, der die Ernte verkauft, der die Verantwortung
übernimmt, verstehst du das? Auch niemand, der sich um die
Leute kümmert. Wenn beispielsweise einer krank würde oder
stürbe und eine Witwe und viele Kinder zurückließe, dann
würden die verhungern. Von den Kindern hätte dann jedes nur
ein winziges Stückchen Land, das nicht einmal fürs Essen
reichen würde. Es muß jemand da sein, der für sie denkt, der
Entscheidungen trifft, der ihnen hilft. Ich war der beste Patron in
der Gegend, Alba. Ich habe einen schlechten Charakter, aber ich
bin gerecht. Meine Hintersassen leben besser als viele Leute in
der
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